Im Halbdunkel
Was ist eigentlich mit Steven Spielberg los? Dass die Zeiten vorbei sind, in denen uns der erfolgreichste Regisseur aller Zeiten Popcorn-Kino à la »Der weiße Hai«, »E.T.« oder »Jäger des verlorenen Schatzes« am Fließband lieferte, daran haben wir uns ja schon gewöhnt: In den 90er Jahren gab es kaum ein großes historisches Thema, das vor ihm sicher war – vom Holocaust (»Schindlers Liste«) über die Sklaverei (»Amistad«) bis zum Zweiten Weltkrieg (»Saving Private Ryan«). Im neuen Jahrtausend hat sein Werk allerdings eine weitere Wendung genommen, die wohl die wenigsten vorhergesagt hätten. Die Moralfabeln der 90er mit ihren klaren Fronten zwischen Gut und Böse, haben zwielichtigeren Geschichten und philosophisch avancierteren Themen Platz gemacht.
Ging es in »A.I.« um Klonen und künstliche Intelligenz, thematisiert »Minority Report« die Frage der Balance zwischen
Sicherheit und Freiheit, die seit dem »War on Terror« besondere Aktualität bekommen hat. Im Jahre 2054 werden in Washington D.C. Kapitalverbrechen erfolgreich durch menschliche Mutanten verhindert, die in die Zukunft sehen können. John Anderton (Tom Cruise) hat im Justizministerium die Aufgabe, die Visionen der sogenannten »pre-cogs« zu dechiffrieren und die Verbrechen dingfest zu machen. Doch eines Tages wird er mit der Vorhersage konfrontiert, dass er selber bald zum Mörder werde. Anderton flüchtet und entdeckt, dass die scheinbar
so perfekte Verbrechensvorsorge nicht frei von Fehlern ist.
War »A.I.« ein Projekt, das Spielberg von seinem Vorbild Stanley Kubrick übernahm, so basiert »Minority Report« auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick. So wie »A.I.« aufgerieben wurde zwischen Kubricks Kühle und Spielbergs Humanismus, lässt sich in »Minority Report« Dicks dystopische und autoritätskritische Vorlage nur schwerlich mit Spielbergs Drang vereinbaren, das individuelle menschliche Drama in den Vordergrund zu stellen. Am deutlichsten wird diese Zerrissenheit an den Kinderfiguren aus seinen letzten Filmen: Äußerlich sind es kulleräugige Knirpse, die auch in »E.T.« hätten mitspielen können, aber David aus »A.I.« besteht unter der Oberfläche aus Kabeln, Metall und Computerchips, und Sean Andertons Sohn in »Minority Report« ist komplett virtuell, nur noch lebendig auf Videoaufzeichnungen, die der Vater Abend für Abend obsessiv betrachtet. Es mögen keine »echten« Kinder mehr sein, aber Spielberg braucht sie weiterhin als emotionale Fixpunkte für seine Geschichten.
In Interviews betont er in letzter Zeit immer wieder, er habe keine Angst mehr vor den »dunklen Wahrheiten«. Wer Dicks Originalgeschichte liest, wird feststellen, dass Spielberg noch eine Wegstrecke vor sich hat, bis er wirklich zur anderen Seite durchbricht.
Minority Report (dto) USA 02, R: Steven Spielberg, D: Tom Cruise, Colin, Farrell, Max von Sydow, 145 Min. Start: 3.10.