Kunstavantgarde und Gassenkinder
Hartnäckig ist er, der Kölner Greven Verlag, und man darf ihn durchaus mit einem Trüffelschwein vergleichen. Im weiten Feld — oder Morast? — der Kölschen Stadtgeschichte, Alltagskultur und Absonderlichkeiten spürt er immer wieder lohnendes Material auf. Auch der Bildband »Köln vor dem Krieg« ragt aus der Masse der Köln-Bücher heraus — und könnte sogar ein neues Standardwerk werden.
Die Autoren und Fotografen Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer haben in mehrjähriger Recherche aus Kölner und überregionalen Archiven Bilder zusammengetragen, die jene Zeit dokumentieren, in der die mittelalterliche Stadt sich in rasantem Tempo zur modernen Großstadt entwickelte. Der Untertitel »Leben Kultur Stadt 1880–1940« weist die Richtung, geht es ihnen doch nicht nur um Architektur, sondern um städtisches Leben: den Alltag, das soziale Gefüge, nicht zuletzt die Künste als Vorreiter einer neuen Modernität. Ganz nebenbei, aber markant erzählt der Band auch Fotogeschichte, reflektiert die technische Entwicklung (s/w, handkoloriert, Farbe!) und die gesellschaftliche Funktion der Fotografie.
Die chronologische Gliederung umfasst drei Kapitel: In die Zeit des Kaiserreichs fallen Ereignisse wie die Fertigstellung des Doms, das Schleifen der alten Stadtmauer, um Platz für die wachsende Bevölkerung zu schaffen, aber auch die legendäre Sonderbundausstellung 1912, mit der die Avantgarde ins Rheinland kam. Das Kapitel »Weimarer Republik« zeigt den fortschreitenden Städtebau unter OB Konrad Adenauer wie auch die gesellschaftliche Öffnung und Blüte der 20er Jahre. Im dritten sehen wir Passanten unter einem Meer von Hakenkreuzfahnen in der Hohe Straße flanieren und sogar einen hakenkreuzbeflaggten Dom — »Köln im Nationalsozialismus«. Zur Seite gestellt sind den Fotos ebenso sorgsam ausgewählte zeitgenössische Texte, von Ricarda Huch, Irmgard Keun, Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und anderen.
Katholische Kirche, Handel, der Fluss, der Karneval, Kunst und Kultur, Krieg — die Kölner Erkennungsmelodie. Das weiß man und hat es teilweise schon gesehen. Aber nicht so. Rund fünfzig Prozent der Bilder, von anonymen Fotografen oder von Fotokünstlern wie August Sander oder Karl Hugo Schmölz, sind bisher unveröffentlicht. Ob »Kostenlose Suppe«, 1929 aufgenommen von Hannes Maria Flach, der fast ländliche Friesenplatz um 1900, die »Gassenkinder« von August Sander, Zuschauer in Festtagsgarderobe auf der 1898 eröffneten Rennbahn Weidenpesch — die Bilder erzählen von einem Köln, das es so nicht mehr gibt. Das ist die Melancholie, die einen spätestens bei den drei letzten Aufnahmen des Buches überkommt: zwei von brennenden Häusern und Kirchen, eine Ansicht der zu 90 Prozent zerstörten Stadt 1945.
Danach möchte man eigentlich sofort wieder von vorne blättern durch dieses opulente, durchgängig in Vierfarbdruck hergestellte Fotoalbum, dessen Bilder Verlustanzeigen gleichen und nicht auf Repräsentation aus sind. Eine Stadt der Widersprüche, alterwürdig und modern, die jüngst ihr Archiv im Boden versenkte — wäre es nicht schön, wenn die »Rheinmetropole« Köln, die sich ihre Identität gern bei Dom, Kölsch und Karneval abholt, daraus ein Selbstverständnis entwickeln würde?
Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer: Köln vor dem Krieg. Leben Kultur Stadt 1880-1940. Greven Verlag, 384 S., 425 Abb., 49,90 Euro