»Wir wurden immer zum Problem erklärt«
StadtRevue: Die Demonstration und die Karawane hatten sich zunächst spontan, Mitte April, in Essen gebildet. Was war der Anlass?
Dzoni Sichelschmidt: Es war eine Reaktion auf die Abschiebung von Semseddin Demiri aus Essen. Er wurde ohne Vorankündigung im Morgengrauen abgeholt und ausgewiesen. Ein paar Stunden später war er in Belgrad. Er hatte sich nicht einmal von seinen Kindern verabschieden können.
In Düsseldorf, wo ihr derzeit campiert, ist das Verhalten der Stadt, insbesondere von Oberbürgermeister Erwin, zu einem echten Politikum geworden.
Wir sind nicht nach Düsseldorf gekommen, um gegen OB Erwin zu demonstrieren. Dass zwischen Stadtverwaltung und Polizei keine guten Beziehungen gepflegt werden, ist nicht unsere Sache. Aber wie Herr Erwin mit den Roma umgegangen ist, entspricht nicht der Haltung eines Politikers – der sich auch noch christlich und demokratisch nennen darf. Als OB hat er sich gegen das Grundgesetz gestellt, er hat das Recht auf Versammlungsfreiheit behindert.
Indem ein Platz für eine ordentlich angemeldete Kundgebung mit Baumaterial und Baufahrzeugen versperrt wurde. Ein anderes Mal mussten Mitarbeiter des Garten- und Friedhofsamtes eure Demo auf dem Rathausvorplatz behindern. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ein Ermittlungsverfahren gegen Erwin eingeleitet: wegen »Störung der Versammlungsfreiheit, schwerer Nötigung und Untreue«.
Mich wundert nur eins: Regierungspräsident Jürgen Büssow kritisiert erst Erwins Verhalten, aber über Nacht ändert er seine Meinung und zeigt Verständnis für den OB. Auch Herr Clement hat Erwin Recht gegeben!
Erwin soll sich Sorgen um die Roma-Kinder gemacht haben?
Ja, er wollte mit Hilfe des Ordnungsamtes Berichte über die angeblich miserablen Zustände im Camp anfertigen lassen, um den Eltern wegen unterlassener Fürsorgepflicht ihre Kinder entreißen zu können. Wenn er sich wirklich um diese Kinder sorgen würde, würde er sich für ihr dauerhaftes Bleiberecht einsetzen.
War der OB inzwischen einmal vor Ort?
Nein. Wir hatten ihn herzlich eingeladen, aber er ist leider nicht gekommen. Er hat sich nicht einmal zu einem Gespräch bereit erklärt.
Ist das Klima in Düsseldorf symptomatisch für eine allgemeine Tendenz in Deutschland?
Ich hoffe, nicht. Ich dachte, Düsseldorf sei eine weltoffene Stadt. Vor allem, wenn man sich als Stadt um die Olympiade bewirbt. Die Politiker reden doch von Integration. Wir sehen bei den Roma, dass Integration stattgefunden hat. Ist es nicht ein Widerspruch, diesen Prozess zu unterbrechen und die Leute in den Balkan zu schicken?
»Unsere Kinder sehen in Deutschland ihre Zukunft«
Wie waren die Reaktionen in den anderen Städten, die ihr besucht habt?
Die Kommunen fühlen sich nicht verantwortlich. Die Bemühungen, unser Thema auf die politische Landesbühne zu heben, blieben leider erfolglos. Eine Woche vor der Innenministerkonferenz waren wir beim Bundesrat. Da deutete sich schon an, dass die Entscheidung gefallen war. Eine massive und kollektive Abschiebung würde auf uns zukommen. Wir sollten kein dauerhaftes Bleiberecht bekommen und in »unser Land« zurückkehren. Wo aber ist »unser Land«?
Ist die Situation im europäischen Ausland besser?
Von Freunden in Belgien, Norwegen und Holland weiß ich, dass es nach fünf Jahren möglich ist, die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Hier in Deutschland gab es nur den Status einer Duldung, der die Arbeitsaufnahme de facto unmöglich machte und auch noch eine Residenzpflicht mit sich zog. So kann man doch keine Lebensperspektiven schaffen. Das sind doch Menschen, und keine Waren, die man nach zehn, zwölf oder 15 Jahren wieder verschickt. Wir konnten unseren Kindern in all der Zeit auch nicht verbieten, die deutsche Sprache zu lernen. Sie sind hier geboren, haben deutsche Freunde und gehen hier zur Schule. Sie sehen hier in Deutschland ihre Zukunft.
Nach dem Innenministerbeschluss vom 6. Juni sollen alle Roma zwangsrückgeführt werden. Werden die Abschiebungen jetzt konsequent durchgeführt?
Erwin hat angekündigt, mit der Ausländerbehörde eine Durchsuchung hier auf dem Platz zu machen. Die Roma sollen dann direkt vom Platz aus abgeschoben werden. Diese Nachricht hat Panik unter den Menschen ausgelöst. Es gibt keine politischen Argumente. Die zeigen nur noch Muskeln, und wir können nichts dagegen ausrichten. Doch gegen diese Ungerechtigkeit werden wir kämpfen. Wir wollen mitbestimmen bei Entscheidungen, die unser Schicksal betreffen.
Leben die Menschen nur deshalb im Demonstrations-Camp, aus Angst vor Ausweisungen?
Das ist einer von vielen Gründen. Wir demonstrieren aber auch gegen die herrschenden Vorurteile den Roma gegenüber, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Klischees von kriminellen Roma sind nun über 500 Jahre alt.
»Uns erwartet ein neuer Exodus«
In welche Regionen des ehemaligen Jugoslawiens schieben die deutschen Behörden derzeit ab?
Nach Serbien und Montenegro. Für den Kosovo gilt noch ein Abschiebestopp, aber nicht mehr lange.
Was erwartet die Roma in Ex-Jugoslawien? Gibt es Rückkehrer-Programme?
Nein, keinerlei Hilfestellung, denn die Roma werden nicht als Menschen betrachtet. Uns erwartet in Jugoslawien eine neue Vertreibung, ein neuer Exodus. Und dann tragen auch deutsche Politiker die Verantwortung dafür.
Wie leben die Roma?
Leben ist noch positiv ausgedrückt. Die über-leben! Die Lebenserwartung der Roma liegt inzwischen bei 50 Jahren. Vor zwei Jahren war ich für ein Hilfsprojekt in Prizren/Kosovo mit einer mobilen Ambulanz. Was ich sah, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen: Die Roma leben außerhalb jeder sozialen Struktur und medizinischen Versorgung. Teilweise in Lagern, in militärisch abgeriegelten Enklaven. Im Kosovo sind über 92 Prozent der Roma vertrieben, es hat ein Genozid stattgefunden. Dass man das hier, mitten in Europa, nicht erkennt und versucht, die Menschen wieder dorthin zurückzuschicken – in die Hände der Mörder, das kann ich nicht begreifen.
Welche Haltung würdest du dir im Umgang mit den Roma wünschen?
Mir fehlt die Sensibilität. Die Roma sind Opfer der Nationalsozialisten und erfahren dennoch kein Mitgefühl wie z.B. die Juden. Allein aus dieser historischen Verantwortung dürften niemals wieder Roma aus dem Land gewiesen werden. Damals hieß es »Das sind die Gesetze, wir müssen so handeln«. Heute ist es leider nicht anders, auch wenn natürlich die Gesellschaft eine völlig andere ist. Aber wieder verweist man auf Gesetze, die eingehalten werden müssen. Deutschland muss endlich einen klaren Standpunkt einnehmen, wie mit Ausländern umgegangen werden soll. Angesichts der Tendenz zur Abschottung in Gesamt-Europa kann nicht die Rede sein von einem multikulturellen und gemeinschaftlichen Europa. Die Leute verschließen sich immer mehr in ihren vier Wänden, versuchen aber gleichzeitig, europäisch zu denken. Für mich passt das nicht zusammen.
Wie war die Situation der Roma früher, im ehemaligen Jugoslawien?
In den 80er Jahren, unter Tito, hatten die Roma noch viele Rechte. Es gab diesen Ausspruch Titos: »Hütet die Brüderlichkeit und Einigkeit unter den verschiedenen Volksgruppen wie euren Augapfel!« Ungefähr zehn Jahre nach seinem Tod lebten wir noch in diesem naiven Glauben, obwohl wir merkten, dass der Nationalismus erwachte. Auf serbischer, albanischer, bosnischer, kroatischer, slowenischer und mazedonischer Seite. Jeder hatte seine politische Institution, seine territoriale Identität. Nur wir Roma nicht. Wir wollten keinen eigenen Staat. Wir waren zufriedene Jugoslawen, die sich frei bewegten, Häuser hatten und Arbeit finden konnten.
Verschärfte sich die Lage in den 90er Jahren?
Der Hass erreichte einen Höhepunkt, jeder dachte separatistisch. Dann standen wir Roma plötzlich zwischen den Fronten. Diejenigen, die z.B. versuchten, auf Seiten der Albaner zu stehen, wurden bestraft von den Serben und umgekehrt. Im Krieg mussten die Roma an allen Fronten kämpfen. Sie mussten sich praktisch gegenseitig umbringen.
»Wir versuchten unsere Familien vor dem Krieg, den Nato-Angriffen in Sicherheit zu bringen«
Wohin führte die Fluchtbewegung der Roma?
Eine Fluchtwelle führte viele nach Osteuropa. Ein großer Teil ist aber auch nach Westeuropa geflohen, weil ja auch sehr viele Roma in den 70er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren. Und was liegt näher, als in einer solchen Situation seine Familienangehörigen aufzusuchen? Die Mehrheit der Roma versuchte, vor dem Krieg in Jugoslawien, den Nato-Bombardements, zu fliehen, was auch, wie ich meine, keine Sünde ist: seine Familie in Sicherheit zu bringen.
Wie würdest du eure Lage als Roma beschreiben?
In Europa leben zwischen 13 und 14 Millionen Roma. Aber unsere Probleme wurden nie in Angriff genommen, stattdessen wurden wir immer zu einem Problem erklärt. Wir haben kein Land und keine Rechte. Nirgends.
Wie weit wollt ihr mit eurem Protest hier gehen?
Die Leute wissen, dass sie nichts mehr zu verlieren haben, und sind bereit, noch viel mehr zu leisten, z.B. unser Thema zu internationalisieren und bis nach Brüssel oder Straßburg tragen. Und wenn alles nicht hilft, dann werden wir Deutschland kollektiv zu Fuß verlassen. Denn unsere Würde kann man uns nicht nehmen. Diesen Tag nenne ich Tag X – und auch ich habe große Angst davor.
Hintergrund der Roma-Proteste:
Eine Gruppe von rund 750 Roma zieht seit über fünf Monaten mit einer Protestkarawane quer durch die Bundesrepublik. Stationen waren u.a. Essen, Hannover, Bremerhaven, Berlin, Köln und Düsseldorf.
Die Protestierenden stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien und haben bei einer Zwangsrückführung massive Repressalien zu befürchten. Viele von ihnen sind Bürgerkriegsflüchtlinge, die teilweise seit über zehn Jahren in der BRD »geduldet« wurden. Doch diese Duldungen laufen aus, nachdem Deutschland Ende letzten Jahres mit der Regierung der Republik Jugoslawien einen Vertrag über die Rückführung von Roma-Flüchtlingen nach Serbien und Montenegro unterschrieben hatte. Auch der momentane Ausweisungs-Stopp in den Kosovo soll noch in diesem Jahr aufgehoben werden, obwohl das UN-Flüchtlingskommissariat davor warnt, Angehörige von Minderheiten dorthin zurückzuführen. Die Innenministerkonferenz schloss am 6. Juni 2002 ein dauerhaftes Bleiberecht für Roma explizit aus. Allein in NRW sind rund 10.–15.000 Roma von der Zwangsrückführung betroffen, so schätzt Sichelschmidt. Andere Schätzungen gehen sogar von bis zu 40.000 aus.
Seit Ende Juli campieren die Roma in der Landeshauptstadt Düsseldorf, wo die politischen Ziele der Gruppe aufgrund offener Polemiken zwischen Stadtverwaltung, Polizei und Lokalpresse in den Hintergrund gerieten. OB Joachim Erwin (CDU) hatte der Polizei vorgeworfen, sie sei nicht gegen die »rechtswidrigen Blockaden« der Roma eingeschritten. Polizeipräsident Dybowski konterte, Erwin sollte das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eigentlich kennen.
Gegen Erwin ermittelt nun die Staatsanwaltschaft – u.a. wegen »Störung der Versammlungsfreiheit«. Erwin hatte schließlich mit fingierten Baustellen- und Gartenarbeiten die Demonstration der Roma behindert.
Zur Person: Dzoni Sichelschmidt
Der 31-jährige Sprecher der CIAER Roma-Union e.V. (Centre of Integration, Affirmation and Emanzipation of the Roma in Germany) ist in Prizren im Kosovo geboren. Als Dzoni Sichelschmidt Anfang der 90er Jahre in Pristina ein Studium aufnahm, musste er wegen des aufflammenden Nationalismus und seiner Herkunft als Roma Stellung beziehen. Er sollte in den Krieg, hatte schon die Einberufung erhalten. Um aber nicht für die Ziele einer nationalistischen Gruppe missbraucht zu werden, flüchtete er 1992 und zog zu seinem Onkel nach Köln, wo dieser seit 30 Jahren lebt. Dort beantragte er politisches Asyl und erhielt eine »Duldung« – für Dzoni Sichelschmidt eine unzumutbare Lage. Er wandte sich, unterstützt von Hilfsorganisationen, Stiftungen und Einzelpersonen, erneut an die Behörden. Durch massive Überzeugungsarbeit gelang es ihm schließlich sogar, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, was mit dem Status der Duldung normalerweise nicht möglich ist.
Er fing als Eisverkäufer in einem großen Freizeitpark an, wo er sich in zehn Jahren Tätigkeit bis zum Restaurantmanager hocharbeitete. In diesem Sommer wurde ihm jedoch gekündigt: Sein ehrenamtlicher Einsatz für die Roma hatte in den letzten Monaten zu viel Zeit gefordert. Jetzt will er sich nur noch der Sache seiner Leute widmen. Schon sein Vater war im Kosovo Parlamentsvertreter der Roma gewesen. Er habe viel von ihm gelernt, sagt Dzoni Sichelschmidt. Aber auch von der deutschen Politik. »Ich bin ein Schüler der deutschen Demokratie«, betont er.
Seit acht Jahren ist er mit einer Deutschen verheiratet, mit der er einen dreijährigen Sohn hat. Auch seine Frau kämpft für die Rechte der Roma. »Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft«, sagt er.