Blatt vorm Mund
Die Stoffserviette verschwindet. Während sie in Landgasthöfen und traditionellen Wirtshäusern oft noch zum guten Ton gehört, ist sie in den Großstädten selbst in besseren Lokalen meist durch Exemplare aus Zellstoff oder einfachstem Papier ersetzt worden. Gastronomen wollen das als lässiges Understatement verstanden wissen. Im Zuge dieser Haltung trinken die Gäste auch teure Rotweine aus stumpfgespülten Wassergläsern und sitzen in guter Garderobe vor Papiersets mit aufgedruckter Speisekarte — während sie auf Hauptgerichte warten, die weit mehr als zwanzig Euro kosten. Man ist kein Snob, stört einen die Unverhältnismäßigkeit von liebloser Bewirtung und Betrag auf der Rechnung.
Die Stoffserviette ist Opfer einer gastronomischen Mode, die das Ornament verachtet: freigelegtes Mauerwerk statt Tapete, gestapelte Europaletten statt Weinregal. Das Publikum soll glauben, so etwas sei mediterran (was derzeit ja immer heißt: modern). Vielleicht fühlt sich mancher tatsächlich an den Urlaub im Süden erinnert. Allerdings: In den dortigen Tavernen hat niemand derart kesse Preise zu bezahlen!
Selbstverständlich muss man nicht immer gediegen essen. Edelstahlgäbelchen für die Pommes oder geschliffene Kristallgläser fürs Flaschenbier — das versprüht mitnichten Grandezza. Das ist bloß lächerlich. So wie all die vorgeblichen Edel-Imbiss-buden. Ein guter Wein aber benötigt ein gutes Glas, und ein Filet vom Ibericosch-wein hat Besseres verdient als ein Küchenmesser vom Flohmarkt.
Wer mit Take-away, To-go und Fastfood aufgewachsen ist, sein Geld später aber dennoch in die »urbane Szene-Gastronomie« trägt, weil das den sozialen Status festigt, hält Tischgedecke für belanglosen Schnickschnack. Alles Prächtige und Schmückende wird bloß als ironisches Zitat gebilligt, oder wenn es als Ausweis finanzieller Potenz und Angeberei dienen kann.
Es ist aber verwunderlich, warum so viel von »Qualität« und »Wertigkeit« geredet wird, während man sich einen teuren 2009er Pinot Noir mit zweilagigen Papierblättern von den Lippen tupft — Massenware, die im Gastronomie-Großhandel zu Stückpreisen mit dritter Stelle hinter dem Komma verramscht wird.