Mentales Copy-and-Paste
Dass seit diesem Tag in der Stadt nichts mehr so sei wie zuvor. Dass die Stadt ihr Gedächtnis verloren habe. Dass eine Wunde klaffe, die niemals heilen könne. So hieß es allenthalben, als am 3. März 2009 das Historische Archiv in die Baugrube der Nord-Süd-U-Bahn am Waidmarkt gestürzt war. Zwei angrenzende Häuser stürzten ein, zwei Menschen starben. Das Archivgut begraben in den Trümmern, versunken im Schlamm der vom Grundwasser ausgespülten Baugrube.
Wer die juristische Schuld an der Katastrophe trägt, wird noch auf Jahre ungeklärt bleiben. Fest steht: Es gab Probleme mit nachfließendem Grundwasser, deshalb wurden mehr Brunnen errichtet, als beantragt und genehmigt worden waren; es wurden Messprotokolle gefälscht; Eisenbügel zur Stabilisierung der Schlitzwände sind systematisch gestohlen worden; eine Bauaufsicht durch die zuständigen Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) hatte nicht stattgefunden.
Im April des vergangenen Jahres ließ die Staatsanwaltschaft Taucher im Bergungsbauwerk Beweise sichern. Anschließend wurde damit begonnen, ein 30 Meter tiefes Besichtigungsbauwerk zu errichten, um die Untersuchungen fortzuführen. Die Arbeiten verzögern sich, vor 2014 wird es nicht fertig sein.
Zwei Initiativen sind es, die sich infolge der Katastrophe formiert haben. Da ist zum einen »Archiv-Komplex«, eine von Künstlern dominierte Bürgerinitiative. Sie kämpft für ein angemessenes Gedenken am Unglücksort, hat aber bis heute keinen eigenen Vorschlag präsentiert. Und da ist die Initiative »Köln kann auch anders«. Bis heute meldet sie sich immer wieder zu stadtpolitischen Themen zu Wort, fordert mehr Transparenz: bei der Sanierung von Oper und Schauspielhaus, bei der städtischen Gebäudewirtschaft, bei Großprojekten wie dem Jüdischen Museum (siehe Seite 16). Jeden Montag stehen ihre Vertreter eine halbe Stunde vor dem Rathaus, Experten referieren zu einem aktuellen Thema. Meist ist die Schar der Zuhörer klein, man kennt sich. Der Elan des Protests hat vier Jahre nach dem Einsturz nachgelassen.
»ArchivKomplex« hatte zuletzt 24 rot-weiße Tafeln am Bauzaun aufgehängt, mit Texten, die am Unfallort über den Einsturz informieren. Aber vor den Tafeln, so die Stadt, hätten sich immer wieder Menschen versammelt und den Verkehr gefährdet. Jetzt musste die Initiative die Schilder abhängen, durfte sie aber in einer Nebenstraße anbringen. Die Stadt selbst hat bis heute nur ein paar Infos angeschlagen; eine Gedenkplakette wurde bis heute nicht angebracht.
Wie dilettantisch das Krisenmanagement und die Erinnerungspolitik der Stadt sind, aber auch für wie unbedeutend die Kölner Bürger weitgehend das Stadtarchiv halten, belegt das Debakel um die Stiftung Stadtgedächtnis (siehe SR 01/13). Die Idee, in der Bürgerstadt Köln — der Stadt der Stiftungen und Mäzene — Geld zu sammeln, ist kläglich gescheitert. Der Durchschnittsbürger soll sich mit dem Kauf bedruckter Tassen und Mouse-Pads beteiligen, aber niemand will diesen Plunder haben.
Aus der Stadtverwaltung kommen nur gute Nachrichten: 95 Prozent der Archivalien seien gerettet, behauptet man stolz. Die Stadt verschweigt, dass es sehr schwierig oder gar unmöglich ist, die Dokumente wieder einander zuzuordnen. Nur dann aber könnten sie nach einer aufwendigen Restaurierung erneut genutzt werden.
Und noch immer hat die Stadt keine Form für das Gedenken an der Unglücksstelle gefunden. Im Siegerentwurf des Architektenwettbewerbs zur Neugestaltung des Georgsviertels ist in der Blockrandbebauung entlang der Severinstraße ein Durchgang vorgesehen. Er führt zu einem »Ort des Erinnerns«: Im Architekturmodell stehen dort ein paar Bäumchen — Platzhalter der Ratlosigkeit. Es ist ja auch noch Zeit, vor 2020 passiert hier sowieso nichts.
Zum vierten Jahrestag des Archiveinsturzes wird die Stadt Köln einen Karnz niederlegen — das war’s. Die Initiativen versammeln sich derweil am Ort der Katastrophe, Protestzüge zum Rathaus wird es nicht geben. Die Kritik der Bürger an einer verantwortungslosen Stadtpolitik ist einem diffusen Misstrauen gewichen: Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen.
Und immer noch hört man: dass nichts mehr so sei wie zuvor, dass die Stadt ihr Gedächtnis verloren haben, dass eine Wunde klaffe, die niemals heilen könne. Es sind stehende Redewendungen in diesem Zusammenhang. Ein mentales Copy-and-Paste, das den Furor und die Fassungslosigkeit von vor vier Jahren für die Gegenwart konservieren soll. Ein Floskel-Archiv der Betroffenheit, das gleichfalls auf schwankendem Boden steht.