Du bist nicht schön!
Jugendliche Helden, die am Leben leiden, muten einen immer besonders tragisch an. Singt doch fast jeder Schlager davon, dass Glück samt seiner Sahnehäubchen »Liebe« und »Erfolg« vornehmlich ein Privileg der Jugend ist. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Von Ausnahmen abgesehen, gibt es für die meisten Menschen tatsächlich kaum eine grausamere Phase der Anfechtung als die Zeit des Erwachsenwerdens. Als Heranwachsender steckt man insofern im Dilemma: Man fühlt sich erwählt und doch gleichzeitig verpflichtet. Denn schließlich ist es ja nicht damit getan, einfach nur jung zu sein. Man muss sich auch angemessen jung verhalten. Und das heißt vor allem: Irre viel Spaß an seinem Leben haben.
Genau damit aber tut sich Anne, die Ich-Erzählerin in Karen Duves zweitem Roman, schon früh schwer. Nur bis zu ihrem siebten Lebensjahr fühlt sich das stille Mädchen aus einer Hamburger Vorortsiedlung einigermaßen wohl. Bis dahin genießt sie mit ihrem Kinderfreund Axel alterstypische Doktorspiele, wenngleich solche der eher frustrierenden Art: Annes Behandlungen bestehen nämlich darin, mit Tesafilm vom Rasenmäher zerhackte Frösche zusammenzukleben. Den regelmäßigen Tod ihrer Patienten nimmt sie dabei »genauso gleichmütig hin wie die Existenz von Flugzeugen, Telefonen und fließend Wasser. Ich glaube, sieben Jahre ist ein Alter, in dem man es sich einfach nicht leisten kann, von neuen Erfahrungen übermäßig beeindruckt zu sein«, räsoniert Duves Protagonistin rückblickend auf einem Flug nach London.
Inzwischen ist sie fast dreißig Jahre älter, um einige Erfahrungen verbitterter und vor allem um etliche Pfunde schwerer. 117 Kilogramm wiegt Anne, als sie im Flieger sitzt und ihre Biografie Revue passieren lässt. Nach England reist sie aus Liebeskummer. Seit ihrer Gymnasialzeit ist Anne in einen alten Mitschüler verliebt. Unglücklich verliebt, versteht sich. Denn so jemand wie sie lebt grundsätzlich im falschen Leben. »Ich hatte die falsche Figur und die falschen Jeans, ich lachte falsch und sagte die falschen Sachen; selbst das Fahrrad, das mir gehörte, war kein richtiges Fahrrad, sondern ein Klapprad. Es wäre müßig gewesen, alle meine Fehler aufzuzählen – ich selbst war der Fehler«, redet sich Anne schon als Zehnjährige ein.
Zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre erste Diät bereits hinter sich. Bezeichnenderweise ist es Axel, der ihr (aus Rache dafür, dass sie ihm die Freundschaft gekündigt hat) beim Völkerball »schwabbelnde Oberschenkel« attestiert. Die Grundschülerin fällt daraufhin einen Entschluss, der »bedeutender (ist) als das maßlos überschätzte Ereignis der Entjungferung«: Anne beschließt abzunehmen. Wobei die von ihrer Mutter empfohlene »Mayo-Diät«, bei der das Mädchen so viele Eier isst, dass sich schließlich die Augäpfel gelb verfärben, noch einer ihrer harmloseren Versuche ist, den ungeliebten Körper auf Idealmaß zu trimmen. Wie die meisten Jugendlichen verfällt auch Anne dem Trugschluss, dass man ein unstimmiges Inneres mit einem stimmigen Äußeren kompensieren könne. Am liebsten sähe die hochgewachsene 14-Jährige so zierlich aus wie die zwei französischen Austauschschülerinnen, die einmal kurz zu Besuch sind und selbst ihrem störrischen Vater ein Lächeln entlocken, das er für seine eigenen Töchter, jene »großen, plumpen Sauertöpfe«, nicht aufbringt.
Im erfolglosen Bestreben, dem Wunschbild zu entsprechen, steigert sich Annes Magersucht zur Bulimie, die Unzufriedenheit zum Selbsthass. Ihr Jungsein wird zur Plackerei. »Mein ganzes Leben war so anstrengend«, seufzt die 17-Jährige, »auf Partys eingeladen zu werden und zurückfahren zu müssen, ohne geküsst zu haben. Jungen dazu zu bringen, dass sie einen küssten. Jungen zu küssen, vor denen mir eigentlich grauste. Nichts in meinem Leben ging einfach oder von selbst. Außer essen.«
Schon mit ihrem Erzählungsband »Keine Ahnung« hat sich die Hamburgerin Karen Duve vor drei Jahren als Chronistin jugendlicher Debakel profiliert. Auch in ihrem neuen Roman enttarnt sie einmal mehr, wie brutal und dröge erste Male oft sind – besonders dann, wenn man sich so ungeliebt und unter Beobachtung fühlt wie ihre Heldin Anne. Duve nutzt also das in Frauenzeitschriften stets nur vordergründig abgenudelte Thema der Ess-Störung, um die Geschichte dahinter zu erzählen, die so alt und so traurig ist wie Frauen jung und schön sein müssen. Es ist die Geschichte vom Teufelskreis aus Kränkung und Selbstentwertung, die zwangsläufig immer in der Ich-Auflösung endet. Nur schildert Duve sie gerade nicht sentimental-frauenzeitschriftsmäßig, sondern betont lakonisch, streckenweise sogar so amüsant, dass man unwillkürlich lachen muss. Genau dadurch aber rühren die identifikatorischen Bruchlandungen Annes, durch die sie zunehmend von einer Akteurin zu einer Voyeurin ihrer Existenz wird, umso stärker an.
Wie gelähmt verharrt Duves alter ego bald schon hinter dem Vorhang. Oder, um es mit Sylvia Plath zu sagen: Anne bleibt ohnmächtig unter der »Glasglocke«, aussichtslos wartend »auf die entscheidenden Worte, die fallen mussten, damit ich hervor auf die Bühne treten konnte und mitspielen.« Eigentlich, hat die Schrifstellerin kürzlich in einem Interview erklärt, wollte sie ja ein »heiteres, kurzes Buch« machen. Jetzt hat Duve doch über 5 Jahre an ihrem zweiten Roman geschrieben, und er besitzt – ihrer Titelaussage zum Trotz – bis auf 30 allzu plapprige Seiten kurz vor Schluss genau jenen zarten Schmelz und schwermütigen Kern, der gute Liebeslieder auszeichnet.
Karen Duve: »Dies ist kein Liebslied«, Eichborn-Verlag 2002, 283 Seiten, 19,90 €.
Lesung: 13.11., 20 Uhr, Buchhandlung M7, Mediapark 7