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Materialien zur Meinungsbildung

Menschen, die umgezogen sind, wollen Besuchern immer die neue Wohnung zu zeigen. Oft schon bin ich zu derartigen Führungen genötigt worden. Da wird man durch 4ZDKB-Altbauetagen bugsiert und muss höfliche Sprüchlein aufsagen: die neue Küche ist ja viel größer, welch wunderbare Badkacheln, und endlich Parkett im Flur ("Ach, doch Laminat? Hm, ist ja auch praktisch."). Kurz fällt bei diesen Rundgängen lediglich die Besichtigung des Schlafzimmers aus. Dieser Raum ist tabubesetzt, schließlich könnten Einrichtung und Ausstattung pikante Einblicke gewähren: peinliche Lektüre auf dem Nachttisch, Bettwäsche in Deutschlandfarben, und was sollen die Plüsch-Handschellen am Bettpfosten?

 

Es gibt auch einen Raum, der gar nicht erst gezeigt wird: der Keller. Wohl, weil er noch tiefer blicken lässt: in die Seele der Besitzer, und zwar in deren dunkelste Bezirke. Eine Kellerbesichtigung gleicht einem Abstieg in den Höllenkreis des Unbewussten. Hier offenbart sich das Verdrängte in Form von schrecklichem Gerümpel: modrige Camping-Zelte, Nordic-Walking-Stöcke, lenkerlose Klappfahrräder und ein alter Sack, aus dem es derart organisch müffelt, dass man nicht nachschauen möchte, warum.

 

Gesine Stabroth hat im Keller zudem einige Regalmeter universitärer Schriften archiviert. Jeder, der noch halbwegs bei Trost ist, muss ahnen, dass die Lektüre dieser hastig verfassten, längst stockfleckigen Seminararbeiten seelisch und körperlich nicht guttut: Sekundärliteratur-Medleys zur Schwankdichtung des Spätmittelalters ("trotz gravierender Mängel noch ausreichend") oder Aristoteles' Kategorienschrift (unvollendet, weil super Sommerwetter 2003).

 

Ich möchte hier ganz unverblümt über Keller reden. Was soll die Verklemmtheit? Jeder hat schließlich einen, es ist das Natürlichste von der Welt. Mein Keller ist wie anderer Leut's Keller auch: vollgestopft, unbenutzbar, sinnlos. Die darin eingepferchten Möbelstücke und Gerätschaften gleichen Gefangenen, die im dunklen Verlies eines Urteils harren, das gnadenlos sein wird ("Sperrmülltermin..."), doch das zu sprechen ihr Richter immer wieder aufs Neue hinauszögert ("...oder doch bei Ebay verticken?").

 

Sieht man den Haushalt als Organismus an, entspricht der Keller dem Verdauungstrakt. Fäulnis und Feuchtigkeit nagen an den Dingen, jedoch mit atemberaubender Langsamkeit. Der Keller leidet unter Verstopfung. Wir ahnen das und mästen ihn doch immerzu mit neuem Plunder. Wer etwas in den Keller gibt, will eine Entscheidung vertagen - und hat sie doch längst getroffen, denn aus dem Keller kehrt kein Computertisch und keine Blumenampel mehr zurück.

 

Da überwand ich mich. Wir hängen zu sehr am Materiellen, sagte ich mir, und wollte allen Ballast abwerfen. I was looking for freedom. Ich beantragte einen Sperrmülltermin, man gewährte ihn mir - und einigen Nachbarn in meiner Straße wohl auch. Gesine Stabroth war ganz aus dem Häuschen: "Was die alles wegwerfen, da ist vieles noch sehr gut! Was für eine hübsche Oma-Kommode, man müsste sie nur mal eben abschleifen. Und die coole Stehlampe, sicher kann man den verbogenen Ständer irgendwie geradebiegen."

 

Gesine Stabroth rechtfertigte ihre tosende Sammelwut mit Tiraden gegen "die Wegwerfgesellschaft" und "die Idiotie, dass das Alte nicht mehr gut genug ist". Eine böse Ahnung stieg in mir auf, als ich hörte: "Und wenn die Sachen doch nicht so dolle sind, verkloppt man's halt wieder auffem Flohmarkt. Oder bei Ebay..." Nur, wohin erst mal damit? Gesine Stabroths Keller ist ja voll. Ich hätte doch jetzt wieder Platz, säuselte jemand. Und es ist nicht weit, das stimmt. Nur die Treppe runter. Nach ganz unten.