»Die Realität remixen«
Vor gut zwanzig Jahren hielten sie Einzug in Deutschland — Computerspiele, nachdem Vorboten wie das legendäre Videospiel Pong 1972 den Grundstein für ihre Entstehung markiert hatten.
Dann rückte der C-64 an. Sah aus wie eine Brotkiste. Er sandte bewegte Bilder und Musik auf den Bildschirm. Die Musik ging nicht mehr aus dem Kopf. Zack-zack, pling-poing. Seitdem hat sich viel verändert. Deutschland ist mit über zwanzig Milliarden Euro Jahresumsatz der zweitgrößte Markt für Computerspiele in Europa. Es tut sich so einiges im Spannungsfeld zwischen purer Unterhaltung und multimedialer Kunst, und es mag ein Zeichen sein, dass auch in der Hochkultur die Skepsis gegen Computerspiele schwindet. Vor fünf Jahren verpasste der Deutsche Kulturrat dem einstigen Schmuddelkind sogar den Ritterschlag und erklärte das Computerspiel zum Kulturgut.
Zunehmend nimmt sich auch das Theater Spiele und interaktive Medienformen vor und verzahnt sie mit der Bühnenwirklichkeit. In »Next Level Parzival« beispielsweise, ganz konventionell für ein Theater der Vierten Wand geschrieben, verschaltet Tim Staffel den Parzival-Mythos aus dem Umkreis der Artus-Sage mit Dramaturgien von Online-Rollenspielen wie »World Of Warcraft«. Oder es wird kollektiv aus dem Bühnenraum gespielt wie bei dem Multiplayer-Game »Best before« von Rimini-Protokoll. Das Geschehen ist davon abhängig, wie sich der Zuschauer auf der Leinwand als ein kleiner bunter Gummiball navigiert, so dass eine Wechselwirkung zwischen vorgegebener Handlung und dem Input des Spielers ensteht. Auch derzeit prägende Regisseure wie Nicolas Stemann blieben nicht unberührt vom Interaktivitätsschub, wenn auch die traditionelle Rezeptionssituation nicht aufgelöst wurde. Immerhin hat Stemann in seinem Vier-Stunden-Happening von Elfriede Jelineks »Kontrakte des Kaufmanns« am Schauspiel Köln den aktiven Zuschauer darüber versucht ernst zunehmen, dass dieser zu jedem beliebigen Zeitpunkt seinen Platz im Saal verlassen konnte, um im Foyer zu plaudern und dann mit einem Getränk zurückzukehren.
Neben inhaltlichen und ästhetischen Impulsen aus der virtuellen Welt gibt es bereits vielversprechende Projekte, die versuchen die Brücke zu schlagen zwischen formaler Inszenierung und neuer Spielkultur. Ein Beispiel ist das Berliner Kollektiv Invisible Playground — ein Zusammenschluss von Spieleentwicklern, Theatermachern und Musikern, die Städte als interaktive Spiele-Plattform nutzen. Im Rahmen der Reihe »TransFusionen« an der Studiobühne kommt das Game-Art-Ensemble mit einem Gastspiel nun nach Köln. Bereits vergangenes Jahr konnte man mit ihnen spielen. Im Carré zwischen Josef-Haubrich-Hof und Heumarkt ging es auf Monsterjagd.
Uraufgeführt wurde dieses Site-Specific-Format zuvor unter dem Namen »Ruhrzilla« und in Kooperation mit dem Mühlheimer Ringlokschuppen als ein mehrwöchiges Spiel für eine ganze Stadt entwickelt. »Wir wollten die unbelebte Innenstadt, diesen Unort, den Mühlheimern ins Bewusstsein bringen, aus ihnen eine andere Nutzungsart hervorkitzeln«, erklärt Christiane Hütter das Projekt. »Und zwar so, dass sie sich für einen Moment einem utopischen Denken öffnen und sehen, dass Realität nicht nur das sein muss, was man im Alltag wahrnimmt.« Über die Fiktion einer Monsterinvasion, die Invisible Playground im realen Raum und im Internet installierte, konnten die Spieler wie in eine Pixelwirklichkeit lustvoll und unbeschwert eintauchen — an Orten, die sie normalerweise meiden. »Die Realität remixen«, nennen das die Künstler.
Das »Museum der kleinen Grausamkeiten«, dass jetzt in Köln zu sehen, präzise gesagt zu spielen ist, ist zwar ein kleineres Format, funktioniert aber mit gleicher Intention und ebenfalls ortspezifisch. »Wir denken uns nichts nur aus, sondern recherchieren vor Ort, fragen Leute und sammeln Geschichten,« so Christiane Hütter. Gespielt werden kleine Spiele mit persönlicher oder narrativer Wucht an vergessenen Plätzen. »Immer ausgelöst durch kleine Grausamkeiten: Missgeschicke wie eine verpasste Bahn, ein Unfall aber auch die Fabrikexplosion,« erklärt Spielemacher Daniel Boy. »Wir planen während der TransFusionen in offenen Workshops ein Spiel mit bis zu 500 Menschen: Starfish-Stories. Da werden Menschen eine dreiarmige Krake bilden.« Ob sie mit den ebenfalls zum Festival eingeladenen Performern vom »Reality Research Center« aus Helsinki ein Projekt machen sei zwar nicht geplant, hält Boy aber für nicht ausgeschlossen.
Es wäre exemplarisch für die Entstehung von GameArt. Denn die Qualität der Arbeiten liegt oft in der hohen Kompetenz ihrer Macher für Laborsituationen, die auch angreifbar macht. »Weil unsere Formate nicht von vorne bis hinten inszeniert sind,« erklärt Christiane Hütter. »Wir bieten den Rahmen und sind davon abhängig, dass Spieler die Projektionsfläche nutzen und mitmachen.« Exakt den kreativen Moment zu finden, an dem die Interaktivität maximal ist, ist in diesem Genre die Herausforderung. Das wird auch im Theater eine immer größere Rolle spielen.