In Sippenhaft
Lilijana Selimovic bewahrt ihre Existenz in einer glänzenden Plastiktasche auf. Nacheinander holt sie ihre Ausweise und die der Kinder hervor, darauf die Duldungsbescheide. Dann zeigt sie die Anschreiben, die sie und ihre beiden ältesten Söhne in den vergangenen Monaten von den Wohnversorgungsbetrieben der Stadt Köln erhalten haben. »Räumungsverfügung« ist darauf zu lesen, und dass man sich die »Anwendung des unmittelbaren Zwanges« vorbehalte, falls der Anordnung nicht Folge geleistet werde.
Die aus Serbien stammende Roma-Familie mit zehn Kindern zwischen 3 und 21 Jahren musste im Januar 2013 aus dem Flüchtlingsheim an der Xantener Straße in Nippes ausziehen, wo sie jahrelang gewohnt hatte. Seither lebt die Familie in einem Übergangshotel am Heumarkt, zu elft in drei Zimmern, ohne Küche, ohne Waschmaschine. Grund für den erzwungenen Umzug: der älteste Sohn hatte einen Wachmann, der in einem Flüchtlingsheim in Weiden Dienst tat, im Dezember 2012 geschlagen. »Um den Familienverband nicht zu trennen, ist eine Verlegung der gesamten Familie angemessen und notwendig«, heißt es im Bescheid der Stadt.
Die gesamte Familie muss also die Konsequenzen aus dem Fehlverhalten eines Einzelnen tragen — und Familie Selimovic ist nicht der einzige Fall. »Wir kennen allein fünf Familien, die in den letzten zwei Jahren aus diesen Gründen umziehen mussten, eine davon im vergangenen Jahr sogar viermal«, so Ivana Ilic, Leiterin von Amaro Kher, einem Schulprojekt des Rom e.V. Ob nun ein Sohn eine Scheibe eingeschlagen, der Vater Müll aus dem Fenster geworfen habe oder ob es sich um eine andere Ordnungswidrigkeit handle: »Ich glaube sofort, dass da einzelne Personen Schwierigkeiten gemacht haben«, sagt Ilic. »Aber wieso muss man gleich die ganze Familie bestrafen?«
Lilijana Selimovic will Kaffee kochen, sie geht zum Waschbecken in der gefliesten Zimmerecke, unter dem ein blauer Bottich steht. Die Leitungen im Haus sind kaputt, und weil das Wasser nicht abfließt, müssen die Bewohner es auffangen und dann ins Klo schütten. Immer wenn im Haus jemand den Hahn aufdreht, röhrt und gluckst es hinter den Wänden. Seit Wochen ist die Waschmaschine kaputt, es gibt nicht genug Platz, doch das sind nicht die größten Probleme. Es ist die Ungewissheit: Übergangshotel bedeutet, dass die Familie bald wieder umziehen wird. Wohin, das weiß sie nicht. Was aus dem Schulbesuch der Kinder wird, ist ungewiss. »Man wirft den Roma-Familien oft Strukturlosigkeit vor. Aber welche Strukturen bieten wir ihnen denn?«, fragt Ivana Ilic.
Auch Lilijana Selimovic versteht nicht, was mit ihrer Familie geschieht. All die Anschreiben kann sie nicht lesen, eine Schule hat sie nie besucht. Sie ist am Rande einer Müllhalde groß geworden und musste im Flüchtlingsheim erst lernen, wie man einen Schrank benutzt oder die Uhr liest. Was sie aber weiß: Dass sie sich nach einer dauerhaften Bleibe sehnt. Und dass es ihren Kindern gut tut, wenn sie zur Schule gehen.
Letzteres war jedoch nicht immer so. »Es hat so viel Arbeit erfordert, das Vertrauen der Familie zu gewinnen. Nun kommen die Kinder endlich regelmäßig und gern zur Schule, und dann wird plötzlich wieder alles aufs Spiel gesetzt«, sagt Peter Kremer, Leiter der Förderschule an der Kretzerstraße. Viele Kinder des benachbarten Flüchtlingsheims gehen in seine Schule. Immer wieder kommt es vor, dass Schüler von heute auf morgen nicht mehr zum Unterricht erscheinen, weil die Familien umziehen mussten. Weder die Schule noch andere Helfersysteme werden darüber informiert. Und wo es dieses Mal hingeht, erfahren auch die Flüchtlinge selbst manchmal erst am Tag des Umzugs. »Die Wohnversorgungsbetriebe nehmen auf die schulischen Belange nur selten oder gar keine Rücksicht. Wir können unseren Auftrag nicht erfüllen, und die Kinder sind die Leidtragenden«, so Kremer.
Obwohl das Prinzip der freien Schulwahl gilt, ist es für die Flüchtlingskinder praktisch nicht umzusetzen — etwa, wenn eine Familie von Zollstock nach Kalk umziehen muss. »Wenn der Schulweg zu weit ist, ist er für die Kinder nicht zu bewältigen. Die Behörden übernehmen bei Grundschulkindern in der Regel auch nur die Fahrtkosten zur wohnortnahen Schule«, so Kremer.
Ivana Ilic musste häufig mit ansehen, wie die jahrelange, mühevolle Arbeit von Amaro Kher durch die Zwangsumzüge zunichte gemacht wurde. Die viel gelobte »Schule für Romakinder« schickt jeden Morgen Busse los, um die Kinder aus den Flüchtlingsheimen abzuholen. Sie werden so lange individuell gefördert, bis sie eine normale Schule besuchen können. Ilic erzählt von einem Mädchen namens Sakica, das rasante Fortschritte machte und sich zu einer ausgezeichneten Schülerin entwickelte. Nach zwei Zwangsumzügen mit ihrer Familie sei ihr Lerneifer jedoch geschwunden, so Ilic. Zudem habe die Familie den Kontakt zu Amaro Kher abgebrochen, weil sie die Organisation fälschlicherweise für die Umzüge verantwortlich machte.
»Kinder lernen personen- und kontaktbezogen. Wenn es keine Kontinuität gibt, verlieren die Kinder ganz schnell das Zutrauen in die Schule«, sagt Kremer. Die Zwangsumzüge gefährden den Schulbesuch der Kinder und beeinträchtigen damit ihre Bildungschancen. Der Rom e.V. hält diese Maßnahmen deshalb für rechtswidrig und behält sich vor, im Fall eines erneuten Zwangsumzugs gegen die Stadt Köln zu klagen.
Die Mitarbeiter der Stadt wiederum wissen sich nicht anders zu helfen, als mit dieser Praxis fortzufahren. Das Verwaltungsgericht habe die Verlegung der Familie Selimovic für rechtmäßig erklärt — auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls. Nur den Einzeltäter zu »verlegen«, hält Stefan Ferber für schwierig. »Der Familienverband wäre praktisch kaum zu trennen«, so der Leiter des Amts für Wohnungswesen. Und weil es in den Flüchtlingsheimen bewusst keine Einlasskontrollen gebe, er aber das städtische Personal und die Mitbewohner schützen müsse, sei die »ordnungsbehördliche Räumung aus schwerwiegenden Gründen« eben unumgänglich — aber nur als »letztes Mittel«.
Ferber hat sich inzwischen mit Vertretern von Rom e.V. zu einem Krisengespräch getroffen. Man habe vereinbart, bei Konflikten künftig Amaro Kher einzuschalten und die Umzüge, falls die Stadt nicht auf die Maßnahme verzichten könne, besser abzustimmen und vorzubereiten. Bei den »Verlegungen bei derart schwerwiegenden Fällen« handele es sich ohnehin um »absolute Einzelfälle«, so Ferber — und verweist darauf, dass in den letzten zwei Jahren nur fünf Familien betroffen waren. Ilic kann das nicht recht glauben. »Wir kennen allein fünf Familien, die zwangsweise umziehen mussten — aber wir haben ja nur zu einem Bruchteil aller Flüchtlinge in Köln Kontakt.«
Die zwölfjährigen Zwilllinge Stefan und Leo Selimovic sowie ihre Brüder Steven (14), Naotto (9) und Julio (8), haben sich inzwischen an ihren neuen Schulweg gewöhnt. Nachdem ihr Schulleiter sich hartnäckig dafür eingesetzt hatte, übernimmt die Stadt mittlerweile auch die Fahrtkosten. Doch all die Mühen könnten vergebens sein. Das Hotel am Heumarkt, in dem die Familie seit Januar wohnt, soll in den nächsten Wochen schließen, der Eigentümer möchte das Haus in bester Lage umbauen. Familie Selimovic muss dann wieder umziehen.