Völkermord aus dem Äther

Das Festival »Sommerblut« zeigt Produktionen zum Thema Flucht

und holt Milo Raus »Hate Radio« nach Köln

Mehr als zwei Millionen Menschen flüchteten 1994 aus Ruanda, nachdem Angehörige der Hutu-Mehrheit mit dem Genozid der Tutsi begonnen hatten. Ein Motor dieses Völkermordes, der in einhundert Tagen etwa einer Million Menschen das Leben kostete, war die beliebte Radiostation RTLM. Der Sender goss das Gift seiner Hasspropaganda und gezielte Aufrufe zum Mord an den Tutsi in einen gefälligen Fluss aus Popmusik und lockeren Nachrichten. Ein perfider, verheerender Mix, sorgfältig platziert unter der zum großen Teil analphabetischen Bevölkerung.

 

Jetzt ist die Hetze zurück. Der Schweizer Autor und Regisseur Milo Rau schickt den Sender für eine Stunde wieder on air – auf der Bühne. Vier Schauspieler moderieren in einem exakten Nachbau des Radiostudios lässig die neusten Hits aus dem Frühjahr 1994. Zwischen den Songs verbreiten sie am Mikro gut gelaunt Hasstiraden, die einem den Magen umdrehen. Der ironische Nirvana-Song »Rape Me« wird plötzlich zum ernst gemeinten Appell. In jahrelanger Recherche hat Rau aus Gesprächen mit Zeitzeugen, Wissenschaftlern, Archivmaterial und Recherchen vor Ort und am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda sowie aus den Erinnerungen seiner Schauspieler das »Hate Radio« rekonstruiert.

 

Für solche Reenactments hat sich um den 35-Jährigen das Netzwerk »International Institute of Political Murder« gegründet. Im Zusammenspiel mit anderen Künsten und Medien reinszeniert das Kollektiv historische Ereignisse und eröffnet Räume für Diskussion und Reflexion. Der Kern dieser Theaterarbeit ist die Verdichtung von Realität, nicht deren Nachstellen – auch wenn es auf den ersten Blick so wirken könnte. »Kunst kann eine Realität schaffen, die vielleicht humaner ist als die Wirklichkeit«, erklärt Milo Rau. »Gleichzeitig kann sie vieles hervorholen und zeigen, was verschüttet ist.« Das gelingt auch über die direkte Kommunikation mit Zeitzeugen, die dem Theatermann besonders wichtig ist. Dabei distanziert er seine Herangehensweise von der eines Historikers. »Für mich wäre es unmöglich an einem Thema zu arbeiten, zu dem es nur Material aus Archiven gibt, wo niemand mehr ist, der mir noch darüber erzählen kann.«

 

So wie seine Schauspieler in »Hate Radio«. Als Tutsi und Überlebende des Völkermordes greifen die vier auf ihre persönliche Erfahrung zurück, setzen sich im Spiel erneut den Wunden aus. Vorstellung für Vorstellung. Seit der Premiere wurde das Stück siebzig Mal gespielt. »Wir mussten zwischendurch umbesetzen, weil die Schauspieler es nicht mehr ertragen konnten«, berichtet der Regisseur. Diese subtil inszenierte Wiederholung von Geschehnissen aus der Wirklichkeit trifft direkt ins Mark und erzielt eine ungewöhnliche politische Wucht. »Es hilft vielleicht, das Mitmachen nicht nur als Schauspiel sondern als Aufgabe anzusehen, wenn man aus Ruanda kommt. Es als politische Aktion zu betrachten.«

 

Nach dieser Maxime funktioniert das Theater des Milo Rau grundsätzlich. Als streitbares, entlarvendes und bestenfalls kathartisches Format, das Realität und Kunst auf sublime Weise miteinander verbindet. Ob im Stück »Die letzten Tage der Ceausescus« (2009), in dem der rumänische Diktator verhört wird, der verfremdeten Verlesung der Breivik-Erklärung (2012) oder der dreitägigen Gerichtsshow »Die Moskauer Prozesse«, die im März bei der Uraufführung vor Ort von der russischen Polizei gestürmt wurde. Besonders auf der Bühne, so Rau, könne man Dinge in ihrer Komplexität nah an das Publikum heranbringen, ohne dass man eine Erklärung mitliefern muss. Das Theater ist daher zur bevorzugten Ausdrucksform des ehemaligen Journalisten geworden. In Köln, wo der gebürtige Berner mit seiner Familie seit einem Jahr lebt, wird er in der nächsten Spielzeit am Schauspiel die Geschichte des Maschinengewehrs auf die Bühne bringen. Bis dahin steht noch eine Neuinszenierung seines »Hate Radios« in Frankreich auf dem Plan. Während des diesjährigen »Sommerblut« wird die Fassung zu sehen sein, die letztes Jahr zum Berliner Theatertreffen geladen war.

 

Doch nicht nur Raus Reenactment in seiner hyperästhetischen Art erzählt von katastrophalen Zuständen. Das Kulturfestival hat sich in diesem Jahr ganz dem Thema Flucht verschrieben und dafür weitere exquisite Produktionen im Programm. Für »Grenzenlos«(19.-20.5., Orangerie Theater im Volksgarten) kommt das Teatro Due Mondi aus Italien, die mit afrikanischen Flüchtlingen, die während des Libyen-Krieges in Lampedusa gestrandet sind, gearbeitet haben. Eindringliche Szenen vermitteln eine kleine Ahnung davon, was Entwurzelung bedeutet. Um einen älteren Genozid, den an den Armeniern 1915, geht es in Dogan Akhanlis Monolog »Annes Schweigen« (11. und 12.5., Theater im Bauturm). Solche bis in spätere Generationen wirkmächtigen Traumata stehen auch in Klaus Fehlings Drama »Risiken und Nebenwirkungen« (ab 10.5., Theater die Baustelle) im Mittelpunkt. In der Koproduktion mit dem Theater am Schlachthof Neuss drängt sich die kollektive Gewalterfahrung in eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung.