Die Rechercheure

Das Künstler- und Regieteam Haug/Kaegi/Wetzel sondiert den Alltag. Schließlich findet dort inzwischen das bessere Theater statt. Nach ihrer Bundestagsdebattenkopie »Deutschland 2« zeigen sie beim Bestentreffen der Freien Szene »Impulse« ihr Stück »Shooting Bourbaki«. Thema: Schießen in allen Altersklassen. Mit dabei: fünf Luzerner Jungs.

Die Presse-Mail datiert vom 22. September 2002, 20.49 Uhr. War da was? Sicher, die Bundestagswahl. Noch war sie nicht vorbei. Ein geeigneter Zeitpunkt für Stefan Kaegi, die Ankündigung für ein neues Projekt loszuschicken. Betreff: »Staat. Ein Terrarium«.
Später erzählt der gebürtige Schweizer schmunzelnd von den Parallelen zwischen den Verhaltensweisen von Formica Polyctena (vulgo: die kahlrückige rote Waldameise) und uns Menschen. Echte Ameisen sind die Hauptdarsteller in seinem »Staat«-Projekt, das derzeit im Mannheimer »zeitraum_ex!t Büro für Kunst« läuft. Realisiert hat er es mit Bernd Ernst. Zusammen sind sie »Hygiene Heute«. Am Wahlabend, sagt Kaegi, da habe man studieren können, dass Ameisen sich manchmal genauso schlecht entscheiden können wie Menschen. Wie die Prozent-Balken bei ARD und ZDF hin und her wanderten, so hätten es an diesem Abend auch die Ameisen gehalten. Alles ein kaum repräsentatives Durcheinander.
Außer als »Hygiene Heute« arbeitet Kaegi häufig mit Helgard Haug und Daniel Wetzel im Regieteam Haug/Kaegi/Wetzel. (Bei »Deutschland 2« kam Bernd Ernst dazu, zu viert heißen sie dann »Rimini Protokoll«.) Gemeinsam suchen sie das, was in der Realität schief läuft, zumindest nicht perfekt ist. Oder einfach uninszeniert. Das gilt gerade auch für Inszenierungen. Bei www.hygiene
heute.de liest man deswegen von »Pannen und theatralen ready-mades«. Der aus der Bildenden Kunst bezogene Begriff des ready-made macht deutlich, dass Kaegi – und mit ihm das Dreiergespann Haug/Kaegi/Wetzel – Genregrenzen ganz selbstverständlich überschreitet, und dass sie alle nicht mehr besonders viel darstellen, sondern lieber den Alltag untersuchen und dessen Akteure für theatrale Projekte gewinnen wollen. »Einen fast schon journalistischen Ausgangspunkt definieren«, umreißt Helgard Haug das Konzept, »Material anhäufen und dann mit den Protagonisten des Projekts Erfindungen machen, alles durcheinander bringen zu lassen und immer wieder aufgemischt zu wissen.« Solche Protagonisten kann man dann readymade-Darsteller nennen (zum Beispiel Kaegis Ameisen) oder Spezialisten. »Wir hängen Fragen nach und stellen diese laut in unseren Projekten. Und zwar nicht, indem wir uns selbst auf die Bühne oder ins Licht stellen«, sagt Haug, »sondern indem wir andere Menschen als Experten dorthin führen, wo wir denken, dass die Fragen aufgehoben sind.«
Bei »Sonde Hannover« für das »Theaterformen«-Festival Mitte des Jahres mussten sie ihre Spezialisten nicht mal »ins Licht stellen«. Die Aktion fand am hellichten Tag mitten auf dem Kröpcke statt, einer bekannten Einkaufsmeile in Hannover. Als Experten für Beobachtung und Voyeurismus mussten die Zuschauer ein hohes Gebäude in der Nähe besteigen, ausgestattet mit Kopfhörer und Feldstecher. Unten: die Spezialisten für Einkauf und Passantentum. Dazwischen: einige vom Team engagierte Akteure. Die begannen irgendwann scheinbar völlig grundlos mit merkwürdigen Aktionen, etwa unvermitteltem, raumgreifendem Tanzen oder Hand-auf-die-Brust-legen und Pathetisch-dreinschauen wie vielleicht zu einer Nationalhymne. Die Zuschauer »überwachten« dieses Szenario. Sie hörten Anweisungen, die sie und ihren Feldstecher zur entsprechenden Person auf dem Platz unten navigierten, und dazu einen Soundtrack. Bis zum Auffinden der Person sahen sie so eine Art Experimentalfilm: Bestimmte Details ihrer Stadt wie Gebäudedächer, Werbeschilder, ungenutzte Ecken, erhielten plötzlich eine bis dahin ungewohnte Präsenz. Die Passanten unten, einmal erfasst, spielten unversehens in einem Szenario mit, von dem sie nicht wussten, dass es eines ist; für sie waren ja weder der Soundtrack zu hören noch die weiteren Kommentare zu ihrer Beobachtung von oben, die wie von einem 50er-Jahre-Geheimdienst getextet daherkamen. Für die Beobachter jedoch verwandelte sich alles in ein gigantisch-merkwürdiges Überwachungsszenario, an dem sie selbst lustvoll mitwirkten. Haug/
Kaegi/Wetzel mischten alle Wahrnehmungs- und Einkaufsmuster gründlich auf.
Hervorgegangen ist ihre Zusammenarbeit aus dem Studium am Gießener Institut für Drama/Theater/Medien. Das war Ende der 90er, zu der Zeit, als der Name Hans Thies Lehmann, nicht nur in Gießen in aller Munde war. Lehmann, Theaterwissenschaftler in Frankfurt am Main, hatte den richtungsweisenden Begriff des »postdramatischen Theaters« eingeführt und damit die Veränderungen beschrieben, die sich im Laufe der vorangegangenen Jahrzehnte auf den Bühnen – und vor allem in anderen Theaterräumen – vollzogen hatten. Alles, was im Drama einmal zentral war – Handlung, Figur, Ort – ist inzwischen, theoretisch wie praktisch, gründlich dekonstruiert und durch Begriffe wie Körper, Text, Raum, Medien überlagert worden.
Heute findet das, was früher Theaterproduktion hieß, immer häufiger an und in allen möglichen Orten und Räumen statt, aber selten auf einer herkömmlichen Bühne. Und wenn, dann nicht mit herkömmlichen Schauspielern. Es scheint, dass sich der alte Shakespeare-Spruch »All the world’s a stage« erst heute tatsächlich durchsetzt – obwohl der Alltag als Thema und Aktionsfeld in vorangegangenen Kunstepochen durchaus schon prominent geworden war. Aber wahrscheinlich war der grundsätzliche Darstellungszweifel noch nie so weit vorangeschritten. Und die großen Häuser öffnen sich zunehmend für diese Entwicklungen. Einige der Haug/Kaegi/Wetzel-Produktionen sind von progressiven Staats- und Stadttheatern wie Hannover oder Luzern unterstützt oder produziert worden.
Mit dem Stadttheater hätten sie »gute erste Erfahrungen gemacht«, sagt Daniel Wetzel. Aber Haug kontert: »Was man augenblicklich abschaffen könnte, sind diese völlig durchhierarchisierten Arbeitsformen. Das ist tödlich. Theater ist ja deshalb wichtig und überlebensfähig, weil darin viele Medien, aber vor allem unterschiedliche Menschen kombiniert werden können.« In Zusammenarbeit mit dem Luzerner Theater ist »Shooting Bourbaki – ein Knabenschießen« entstanden, das Stück, mit dem die drei auch zu den diesjährigen »Impulsen« eingeladen sind.
Fünf Luzerner Jungs zwischen zwölf und 15 Jahren kommen zusammen. Zu einem Stück, das »keinen Plot« bietet, wie Wetzel sagt, sondern »vielleicht ein Muster aus Schlaglichtern«. Zentral sei die Frage, »was passiert, wenn fünf Jungs in einen Polizeischießkeller gehen, um sich den anzuschauen«. Das war zugleich ein wichtiger Teil der intensiven Recherche, die vor jedem Projekt der drei steht. Ein anderer war das Züricher Knabenschießen, eine volksfestlich-pädagogische Wettschießtradition vor Ort – und für Wetzel eine »kakofone Dröhnung aus Musik und Machogesabber«. Ihr Stück dazu ist eine assoziative Erzählung. Die fünf Jungs, »Experten für Angriffs- und Verteidigungsstrategien«, umkreisen in verschiedenen Szenen das Motiv der Waffe als »Schnittstelle verschiedenster männlicher Sozialisationsmodelle«, schrieb die Berliner Zeitung.
Natürlich reflektiert ein 15-Jähriger das so nicht. Der Zuschauer aber tut es. Das hat mit den verschiedenen Verfremdungsstrategien wie Audio- und Video-Clips zu tun (biedere Schießlehrgänge und Paint-Ball-Spielen im Wald) oder einer grandiosen Live-Synchronisation einiger »Star Wars«-Identifikationsfiguren. Aber auch mit dem vielschichtigen Agieren der Luzerner Jungs. Zum Teil wirken sie zwar doch ein wenig inszeniert (und da kippt die Sache auch, jedenfalls aufgrund des Videomitschnitts, am ehesten in konventionelles Jugendtheater um), aber meistens begeben sie sich entweder lässig in die erfundenen Anteile des Abends, oder sie sind einfach nur sie selbst: fünf Jugendliche in ihrer Cypress-Hill- oder Marylin-Manson-Welt, frisch, unverbraucht – und mittendrin in allerlei Gewaltstrukturen.
Am Ende sind Haug/
Kaegi/Wetzel selber Spezialisten – gegen das, was für Haug »vielleicht die eigentliche Tragik des Theaters ist: dass dort Menschen agieren, die oft gar keine Ahnung davon haben, was sie darzustellen haben.«

»Impulse«, 14.-30.11. in Köln, Düsseldorf, Mülheim und Bochum. Kölner Spielstätten: Alte Feuerwache, Halle Kalk, Studiobühne. Programm und Karten: www.impulse-off.de oder telefonisch über die Spielstätten. Termine auch im Tageskalender.
»Shooting Bourbaki – ein Knabenschießen« von Haug/Kaegi/Wetzel, Kölner Aufführungen: Studiobühne, 14.11. (Eröffnung »Impulse«), 18.11., 20 Uhr.