Die Zukunft tiriliert nicht mehr
Viele bedeutende Menschen sind vergessen. Wer war noch mal Frederick Collier Bakewell? Tja, was bleibt dann erst von uns anderen übrig? Nur Staub, Leergut und üble Nachrede? Was ist mit Onkel Dietmar?
Fotos in meiner Krimskram-kiste zeigen ihn gelangweilt im Kreise gelangweilter Verwandtschaft, meist vor einer traurig leeren Flasche Amselfelder. Das ist als Vermächtnis nicht viel. Und doch wird etwas bleiben. Ein einziger Satz, fast wie bei Pythagoras. Als die Verwandtschaft in den 80er Jahren sein neumodisches Faxgerät beäugte, prophezeite Onkel Dietmar: »Im Jahr 2000 werden alle Menschen ein Faxgerät zu Hause haben, weil es so praktisch ist, ich sach nur: Wegbeschreibung schicken!« Das Jahr 2000 ist jetzt schon ein Weilchen passé, und alle Wohnungen, die zu inspizieren ich bislang Gelegenheit hatte, widerlegen Onkel Dietmars Weissagung. Nirgends Faxgeräte! Allerdings haben auch die Orakelsprüche von Prophezeiungs-Promis wie Nostradamus, den Mayas oder Tobse Bongartz (»FC Köln steigt auf«) ihre Wucht spätestens nach Ablauf der prophetiebedingten Deadline rasch eingebüßt.
Das macht nichts. Sämtliche Voraussagen, vom Geschwurbel halluzinierender Schamanen bis zum »Frühjahrsgutachten der Wirt--schaftsweisen«, dienen bloß dazu, auf die Gegenwart zu wirken. Man borgt sich Argumente — gegen unkeuschen Lebenswandel oder für einen neuen FC-Stürmer — aus einer phantasierten Zukunft. Ob man sich dabei auf stockfleckigen Papyrus, den Halley‘schen Kometen oder computergenerierten Statistikzauber beruft, ist nur eine Frage des Stils und der Strategie, mit der man die Zielgruppe übertölpeln will.
Onkel Dietmar war kein Eiferer. Sein Fax-Eldorado wäre demokratisch, moralische Gängelei ist Amselfelder-Trinkern meist fremd. Onkel Dietmar sprach sogar offen über die Schattenseiten seiner Utopie. So klagte er über »Irrläufer«. Irgendjemand vertippte sich ständig und faxte endlose Rotwein-Preislisten, oft Amsel-felder. »Die Idioten schießen mir die Rolle leer!«, fluchte Onkel Dietmar. Die Irrläufer materialisierten sich als lange Thermopapierstreifen, die sich vom Gerät ins Wohnzimmer schlängelten — es war, als streckte das Faxgerät dem Onkel Dietmar frech seine Zunge heraus. Ein Omen? Die Faxe des Bösen? Onkel Dietmar hatte es mit einem Vorläufer der E-Mail-Spam zu tun. Bisweilen sind Nebenwirkungen einer neuen Techno-logie zukunftsträchtiger als die Erfindung selbst.
Wäre es nach Onkel Dietmar gegangen, lebten wir heute in einer Zukunft, in der es weder Internet noch Mobilfunk gäbe. Statt-dessen trügen alle Menschen -Faxgeräte mit sich rum, und crazy fax natives besäßen gar zwei! Sie lümmelten damit im Café, und wenn sie im Supermarkt an der Kasse anstünden, faxten sie aus Langeweile irgendwas an ihre -Fax-Freunde, zum Beispiel eine Wegbeschreibung. Oder Rotwein-Preislisten.
Einmal ging Onkel Dietmar ans Telefon. Das war so, als wenn -unsereins noch eine Postkarte schreibt. Es war irgendwas Wich-tiges, Onkel Dietmar sprach Englisch! Abschließend sagte er weltmännisch: »No problem, Sir! I will fucks you!« — Warum wir da nicht gelacht haben? Ja, lacht denn heute einer, wenn all die Menschen auf den Straßen noch viel anstößigeren Unfug in ihr Mobiltelefon hineinblöken? Onkel Dietmars -retrofuturistische Fax-Utopie hätte den Vorteil gehabt, dass wir das nicht mit anhören müssten, sondern nur das vergleichsweise diskrete Piepen und roboterhafte Tirilieren des Übertragungsprotokolls. So betrachtet erscheint mir ein Denkmal für Onkel Dietmar, den glücklosen Visionär, angebracht. Am besten, man errichtet es neben einer Statue von Frederick Collier Bakewell, dem völlig vergessenen Erfinder des Faxgeräts.