20?x?20?=?Pop
Es ist ein bisschen vertrackt, man möchte am liebsten empfehlen, den ersten Track zu überspringen, weil er den Klischees von Anbiederung und schlechtem Pathos entspricht. Aber das geht schlecht, weil das Album zu dicht komponiert ist, man also nicht einfach mit dem zweiten Track einsteigen kann. Erst beim Weiterhören ergibt er — retrospektiv — einen tieferen Sinn, also das Album am besten direkt zweimal hintereinander hören und in Kauf nehmen, dass einem beim ersten Durchgang einiges als effekthascherisch vorkommen mag. Aber keine Sorge, es löst sich auf wundersame Weise auf.
Der Kölner Komponist Gregor Schwellenbach, der ein Händchen für gehobene Funktionsmusik hat, wofür zahllose Aufträge für Theatermusik zeugen (Staatstheater Darmstadt, Schauspiel Köln, Schauspiel Bonn, Grillo Theater Essen, Theater Aachen, Theater Heidelberg, Theater Oberhausen, Kampnagel und Hebbel-Am-Ufer Berlin… noch Fragen?), hat sich an der zeitgenössischen Funktionsmusik schlechthin abgearbeitet: Techno. Und zwar jenen Techno, wie ihn seit zwanzig Jahren das Kölner Label, der Künstlerverbund und Vertrieb Kompakt definiert: nie populistisch, aber auch nie verrätselt avantgardistisch. Zum zwanzigjährigen Label-, Laden-, Vertriebs-, Künstler- und Cliquen-Jubiläum hat sich Schwellenbach durch den Backkatlog gegackert und zwanzig Stücke neu interpretiert — mit dem gesamten Instrumentarium seines kompositorischen Geschicks und seiner offensichtlich großen Erfahrung (Schwellenbach arbeitete auch als musikalischer Leiter auf Kreuzfahrtschiffen). Die Auswahl der Stücke — etwa von Jürgen Paape, Justus Köhncke, Wolfgang Voigt, Michael Mayer, Superpitcher, Closer Musik oder Sachienne — ist gelungen, ihre Zusammenstellung schlüssig, das Album durchschreitet einen Bogen wie ein DJ-Set, die Übergänge (und Brüche) sind raffiniert gestaltet, wie man das von einem Mix-Tape erwartet, klanglich dominiert das Piano. Das sind also die Eckdaten.
Alles andere wäre aber auch eine Enttäuschung, die im, Komapkt-Universum einfach
nicht vorgesehen ist. Besteht das Erfolgsmodell doch im aufgeräumten Auftreten, in einer klaren, geradlinigen Agenda — es gibt musikalisch-künstlerisch keine Überraschungen, das heißt aber auch, dass keine negativen Ausreißer vorkommen. Die Musik, so unterschiedlich im einzelnen die Veröffentlichungen ausfallen, ist durchweg unaufdringlich, ausgewogen, erhebt keinen Anspruch auf künstlerische Nachhaltigkeit, aber: verzichtet genauso konsequent auf »Zeitgeist« und populistische Gesten. Das ist die Satie-Dialektik — nach Eric Satie, der seine Musik als gehobeneres Möbelstück verstand und gerade durch seine ostentative Beiläufigkeit zu einem der wichtigsten Neuerer der modernen Musikgeschichte avancierte: Weil die Musik und mit ihr die Künstler so anstandslos hinter einem funktionalen Anspruch zurücktreten und Kompakt-Techno »einfach nur« für den Alltagsbetrieb des Hedonismus produziert wird, horcht man auf. Denn dies »einfach nur« ist von beeindruckender Stringenz und Eleganz.
Deswegen stört zunächst der von Schwellenbach gewählte Einstieg, weil er bloß doppelt: Der Auftakt mit Jürgen Paapes »Triumph« klingt wie nachgespielter Techno, nicht wie eine eigenständige Interpretation, sondern wie Nachbeterei. Erst danach öffnet sich eine unglaubliche Weite, in der die Kompakt-Tracks mal wie ein Gamelan-Orchester klingen (herausragend: »Gong Audio«, im Original von den Voigt-Brüdern), mal wie Miles Davis in seiner paranoiden Black-Stockhausen-Cyberfunk-Phase (»Grün 4«, der zweite unumschränkte Höhepunkt), mal wie der emanzipierte »All Things Must Pass« George Harrison, mal wie der Soundtrack zu einer US-Krimi-Serie aus den 70ern. Deftige Dixieland-Anklänge verzücken, eine ganze Reihe von Indie-Stücke kommen im Stil der »Quiet is the new loud«-Jahre daher, Yann Tiersen hätte als Co-Produzent (»Two of us«) seine Hände im Spiel haben können.
Das ist weit mehr als »Klassik-Techno« à la Brandt Brauer Frick oder Francesco Tristano, denn Schwellenbach verrät uns etwas über die Funktionsweise und den inneren Zusammenhang von Popmusik und das auf ziemlich ausgefuchste Weise. Er nimmt einen Techno-Track und expliziert ihn, entfaltet ihn, denkt — und spielt — ihn weiter, und dann landen wir bei den oben aufgerufenen Assoziationen. So ergibt auch die gescholtete »Triumph«-Version Sinn. Manche Stücke führen weitergedacht?/?weitergespielt eben wieder zu: Techno (anders gesagt: auch Techno gehört in diesen universellen Reigen popistischer Modelle).
Aus Schwellenbachs Arbeitsweise möchte man einen Umkehrschluss ziehen: Handelt es sich bei Techno, zumal bei einem mit dermaßen großen Selbstbewusstsein produzierten, um die DNA zeitgenössischer Popmusik? Wenn aus diesen Tracks schier alles folgen kann, wenn man sie nur ein wenig arrangiert, heißt das dann umgekehrt, dass sie so etwas wie einen Generalschlüssel darstellen? Vielleicht. Nein, bestimmt nicht. Oder doch? Das Schöne an diesem Künstler-Album (sic!) ist, dass Schwellenbachs Versionen der Spekulation diesen Spielraum eröffnet. Ob das an ihm und seinem theatralischen Geschick liegt — Kraft und Verführung der Verwandlung! —, oder ob sich das Geheimnis wirklich in diesen Stücken verbirgt und nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden: Die Kompakt-Protagonisten werden es uns nicht erklären. Man würde sich ja womöglich zu wichtig nehmen.