»Die Opferorganisationen unterstützen unsere Arbeit«
StadtRevue: Seit drei Jahren leiten Sie mit einer Kollegin in Köln für Pro Familia eine Gruppe von acht Delinquenten, die zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden – mit der Auflage des Gerichts, an einer Therapie teilzunehmen. Was sind die Ziele dieser Therapie?
Bintig: Das Wichtigste ist, dass die Täter keine weiteren Taten begehen. Dazu müssen sie lernen, die Verantwortung für jeden einzelnen Teil ihrer Handlungen zu übernehmen. Die inneren Abwehrmechanismen müssen durchbrochen werden, um den Tätern klar zu machen, dass sie aktiv die Tat begangen und auch die Möglichkeit haben einzugreifen, um weitere Taten zu verhindern. Das ist eine sehr konfrontative Therapie, die mindestens eineinhalb bis zwei Jahre dauert. Die Täter kommen ja nicht freiwillig, sondern werden durch ihr Urteil zur Teilnahme verpflichtet.
Wie wird die Sicherheit des sozialen Umfelds des Täters bei einer ambulanten Therapie gewährleistet?
Wir stehen in direktem Kontakt mit den Bewährungshelfern. Wenn wir feststellen, dass ein Täter in der Therapie nicht mitarbeitet oder nicht in der Lage ist, bestimmte Handlungsmuster zu durchbrechen, besteht die Möglichkeit, das Gericht zu benachrichtigen, die Bewährungszeit zu verlängern oder die Bewährung zu widerrufen. Also den Täter zu inhaftieren. Davon machen wir zur Not Gebrauch, denn für uns steht der Schutz der Opfer an erster Stelle.
Organisationen wie Zartbitter, die Hilfe für die Opfer von sexueller Gewalt anbieten, unterstützen die Forderung nach Weiterführung der Therapiemaßnahmen. Arbeiten sie mit diesen Organisationen direkt zusammen?
Wir laden einmal im Monat einen fachkundigen Gast in unsere Therapiegruppe ein. Das sind z.B. MitarbeiterInnen von Opferorganisationen oder KriminalbeamtInnen, die sich so über unsere Arbeit und das Thema informieren. Uns ist es ganz wichtig, zu zeigen, dass wir nicht hinter verschlossenen Türen eine Art »Schmusetherapie« durchführen. Die Opferorganisationen unterstützen unsere Arbeit, weil sie präventiv ist und so dazu beiträgt, weitere Taten zu verhindern.
Was würde die Streichung der Mittel für diese Projekte in der Praxis bedeuten?
In unserer Gruppe hat die Unsicherheit über die weitere Finanzierung jetzt schon Auswirkungen. Wir konnten im Sommer drei Täter nach mehrjähriger Therapie aus der Gruppe entlassen, haben aber niemand Neues aufgenommen. Was mit denjenigen passiert, die sich nächstes Jahr in der laufenden Therapie befinden, falls es keine Gelder mehr gibt, ist völlig unklar. Das effektive Gruppenkonzept ist damit jetzt schon gefährdet. Für NRW könnte das bedeuten, dass Sexualstraftäter, die zu Bewährungsstrafen verurteilt werden – und das ist vor allem bei Kindesmissbrauch häufig der Fall – gar nicht mehr therapiert werden.
Wäre denn dann ein höheres Strafmaß die Lösung?
Die Gefängnisse haben, obwohl die therapeutischen Angebote in den letzten Jahren ausgebaut wurden, gar nicht die Kapazität, alle Täter zu behandeln. Und ohne Therapie werden sie an ihrem Handlungsmuster nichts ändern. Im Gefängnis sehen sie sich häufig als Opfer der Justiz, weil ihnen das Ausmaß ihrer Taten überhaupt nicht bewusst wird. Wenn sie dann – ohne Behandlung – entlassen werden, sind sie wirklich gefährlich.
Zur Person
Prof. Dr. Arnfried Bintig ist Dozent für klinische Psychologie, Rechtspsychologie und Resozialisierung an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der FH Köln. Als Diplompsychologe arbeitete er zunächst in der Männer- und Paarberatung von Pro Familia und stieß dort auf die Problematik der Täter. Seit über 14 Jahren therapiert er Sexualstraftäter in Einzel- und Gruppensitzungen.
Zur Sache
Das Strafmaß für Sexualdelikte wurde in NRW 1999 im Zuge der Strafrechtsreform erhöht, gleichzeitig die therapeutische Behandlung der Täter, v. a. bei Bewährungsstrafen, als gerichtliche Auflage ausgeweitet. Die ambulante Therapie übernehmen außerhalb des Maßregelvollzugs freie Träger wie Pro Familia oder Caritas. In den letzten drei Jahren wurden in NRW 200 Täter erfolgreich behandelt. Das Justizministerium unterstützt bislang diese Behandlungen mit 435.000 € pro Jahr. Für 2003/04 wurde vom Justizministerium jedoch kein Antrag auf Weiterfinanzierung dieser Projekte an die Landesregierung gestellt.
Gegen die geplante Streichung protestieren Fachleute und MitarbeiterInnen aus allen Bereichen, z.B.: Zartbitter, Kinderschutzbund, Jugendamt Köln, Kontaktstelle gegen Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch, Staatsanwaltschaft Köln, Justizvollzugsanstalt Aachen, Wuppertal, Remscheid und Köln; Bewährungshilfe Aachen, Bielefeld, Düren, AnwältInnen, RichterInnen, KriminalkomissarInnen, PsychologInnen und SozialwissenschaftlerInnen.