Zynische Kalorienzählerei
StadtRevue: In der Einschätzung der katastrophalen Menschenrechtsverletzungen durch Saddam Husseins Regime sind sich die Bundesregierung und die Nichtregierungsorganisationen weit gehend einig. Was jedoch den Umgang mit irakischen Flüchtlingen anbelangt, kritisieren NGOs und Menschenrechtsorganisationen die Regierungspolitik seit langem heftig – warum?
Karl Kopp: Jenseits der außenpolitischen Menschenrechtsrhetorik geht es in der deutschen – und in der europäischen – Asylpolitik vor allem um eins: Abschreckung. Die bundesdeutschen Anerkennungsquoten für irakische Flüchtlinge befinden sich im freien Fall. Von einer im europäischen Vergleich relativ hohen Anerkennungsquote von über 60 Prozent im Jahr 2001 ist sie auf 25 Prozent im Jahr 2002 gefallen. Schaut man sich die letzten Monatsstatistiken genauer an, so liegt sie augenblicklich bei etwa 13 Prozent. Obwohl sich nichts an der katastrophalen Menschenrechtssituation im Irak geändert hat, werden die Opfer der Verhältnisse dort durch eine veränderte Asylpraxis in der Bundesrepublik zunehmend recht- und schutzlos gestellt.
Seit Jahren gehört der Irak zu den Hauptherkunftsstaaten von Asylsuchenden in der BRD. Was sind die Fluchtgründe für Irakerinnen und Iraker, die hier Asyl beantragen?
Sie fliehen vor der totalitären Diktatur Saddam Husseins. Regimekritiker und Oppositionelle wurden in den letzten Jahren zu Tausenden verhaftet und gefoltert oder sie »verschwinden« einfach. Frauen werden in der Haft systematisch misshandelt und vergewaltigt. Im irakischen Alltag kommt es zu brutalen Körperstrafen, die Todesstrafe wird exzessiv angewendet. Minderheiten, Regimekritiker oder als Oppositionelle Verdächtigte werden unterdrückt und vertrieben. Allein im Nordirak leben Hunderttausende Binnenvertriebene unter katastrophalen Verhältnissen.
Mit welcher Begründung werden die Asylanträge abgelehnt?
In den Lageberichten des Auswärtigen Amtes der Bundesregierung wird der Nordirak zur »inländischen Fluchtalternative« erklärt. Hier galt bislang jedoch die Einschränkung, dass diese Fluchtalternative nur für Menschen zumutbar sei, die über soziale und familiäre Anbindungen im Nordirak verfügen, ohne die ein menschenwürdiges Leben dort nicht gesichert sei. Damit blieben in der Regel zumindest arabische Flüchtlinge vor dem Verweis auf den Nordirak bewahrt. In seinem Lagebericht Irak vom 20. März 2002 behauptet das Auswärtige Amt jedoch, Insassen von Flüchtlingslagern im Nordirak erhielten 2.230 Kilokalorien täglich. Und die Flüchtlingslager würden »Personen aus Zentralirak« nicht abweisen. Dies entspricht zwar nicht den Tatsachen, aber das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge korrigierte seine Anerkennungspraxis umgehend. »Soweit es auf die Existenzbedingungen in den Flüchtlingslagern im Nordirak ankommt, sind sie im asylrechtlichen Sinne ausreichend«, heißt es nun lapidar. Seitdem sinkt die Anerkennungsquote signifikant. Selbst Flüchtlinge aus dem Zentralirak, egal ob Kurden oder Araber, können nunmehr auf den Nordirak verwiesen werden.
Warum ist der Nordirak keine »inländische Fluchtalternative«?
Es gibt keine Sicherheit, wenn man in Schussweite der irakischen Truppen lebt, wenn es jederzeit zu einem erneuten Einmarsch kommen kann. Die Konstruktion einer inländischen Fluchtalternative ist eine Fiktion, um den Schutzsuchenden Asyl zu verwehren. Bis heute existiert weder ein faktischer noch wenigstens ein formaler Schutzmechanismus, der den Nordirak davor bewahrt, bereits morgen wieder unter der Verwaltungshoheit des irakischen Staates zu stehen.
Neben der labilen Sicherheitslage ist außerdem kein »menschenwürdiges Existenzminimum« im Nordirak gewährleistet. Die zynische Kalorienzählerei von bundesdeutschen Behörden und Gerichten hat nichts mit Menschenwürde zu tun.
Welchen aufenthaltsrechtlichen Status haben abgelehnte irakische Asylbewerber in der BRD? Wie leben sie?
Sie erhalten eine »Duldung«, vor der Abschiebung schützt sie derzeit einzig und allein der fehlende Abschiebeweg. Seit Jahren bemühen sich deshalb die Bundesrepublik und die EU-Staaten in Verhandlungen mit der Türkei, einen Abschiebeweg zu realisieren. Die europäischen Staaten wollen ein Rückübernahmeabkommen mit der Türkei abschließen, um tausendfach Flüchtlinge via Türkei in den Nordirak abzuschieben. Als Geduldete in der BRD werden den abgelehnten Asylsuchenden die sozialen Rechte eines Flüchtlings vorenthalten: Sie haben kein Recht auf Familienzusammenführung, keine Bewegungsfreiheit im Asylland, eingeschränkte Sozialleistungen, keinerlei Integrationsperspektive – sie sitzen sozusagen auf gepackten Koffern.
Die UNO geht davon aus, dass im Falle eines Krieges etwa 600.000 bis möglicherweise drei Millionen Flüchtlinge versuchen werden, den Irak zu verlassen. Ist zu erwarten, dass die BRD und die anderen europäischen Länder ihre Abschottungspolitik dann ändern?
Alle internationalen Beobachter rechnen mit einer humanitären Katastrophe. Es gibt keinen Hinweis, dass die europäischen Staaten von ihrer Politik der koordinierten Abschottung abrücken. Im Gegenteil: Seit Ende Januar betreiben Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Großbritannien gemeinsame Manöver im Mittelmeer, um Flüchtlinge noch effektiver an der Einreise in die EU zu hindern. Der gemeinsame Nenner aller europäischen Staaten – ob sie für oder gegen einen Krieg votieren – ist die so genannte Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme und das bessere Abschotten der EU-Außengrenzen. Die Türkei soll vor allem die Funktion des Türstehers nach Europa übernehmen. Die EU will, dass Fluchtbewegungen bereits dort gestoppt werden. Die Türkei wiederum riegelt die Grenzen zum Irak ab. Türkische Truppen halten einen »Sicherheitsstreifen« entlang der irakisch-türkischen Grenze besetzt. Das Gleiche macht das Nachbarland Iran. Große Teile der Grenze zum Iran wurden in den vergangenen Jahren neu vermint. Im Kriegsfall droht der abgeriegelte Nordirak für Fliehende zur tödlichen Falle zu werden.
Was sind Ihre Forderungen an die Bundesregierung?
Das Gebot der Stunde ist ein Kurswechsel der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik. Wir fordern eine großzügige Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Irak und für die bereits in Deutschland Lebenden einen festen Status. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die tiefe Verstrickung deutscher Unternehmen und früherer Bundesregierungen bei der Aufrüstung des Irak. Dringend erforderlich ist eine umgehende Korrektur der beschönigenden Lageberichte: Die Fiktion einer »inländischen Fluchtalternative« muss aufgegeben werden. Die Schutzsuchenden aus dem Irak haben das Recht auf einen Flüchtlingsstatus. Die EU muss jetzt Initiativen einleiten, um eine Öffnung der Grenzen von Seiten der Nachbarstaaten Iran und Türkei zu erreichen. Um dies glaubwürdig zu fordern, brauchen wir eine europäische Aufnahmepolitik an Stelle koordinierter Abschottung: Irakische Flüchtlinge benötigen jetzt gefahrenfreie Fluchtwege und Zugänge in die EU. Das Auswärtige Amt und die bundesdeutschen Behörden laufen augenblicklich Gefahr, dass sie tödliche Fehleinschätzungen wie im Vorfeld des Kosovokrieges wiederholen.
Der Nordirak
Am 5. April 1991 fassten die Streitkräfte der USA, Großbritanniens und Frankreichs – unter Berufung auf die Resolution 688 des UN-Sicherheitsrats – den Beschluss, in Teilen des Nordirak eine »Sicherheitszone« einzurichten. Die Maßnahme sollte dazu dienen, den etwa zwei Millionen kurdischen Flüchtlingen, die vor den irakischen Truppen in den Iran oder die Türkei geflüchtet waren, die Rückkehr an ihre Wohnorte zu ermöglichen. Zusätzlich wurde durch die Streitkräfte der drei Allierten Staaten eine sogenannte Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades etabliert. Frankreich beteiligte sich bis ins Jahr 1996 an der Durchsetzung des Flugverbots.
In dem Gebiet von etwa 40 000 Quadratkilometern, in dem 3,5 Millionen Kurden leben, finden die Militärschläge gegen irakische Flugzeuge und Flugabwehrbatterien statt. Faktisch befinden sich zwar seit April 1991 Teile des Nordirak unter kurdischer Kontrolle. Der Status Quo kurdischer Selbstverwaltung wurde jedoch niemals völkerrechtlich festgeschrieben und fand keinerlei internationale Anerkennung.