Die Stille nach dem Piep
Man kann verrückte Dinge tun, wenn man ein Telefon besitzt. Man kann sich zum Beispiel weigern, auf einem Anrufbeantworter eine Nachricht zu hinterlassen. Obwohl man ja wohl etwas zu sagen gehabt hatte — weshalb sonst griffe man zum Telefon? Aber immer öfter lese oder höre ich »Es wurde keine Nachricht hinterlassen«. Das Paradox besteht nun darin, dass eben dies eine Nachricht ist. Bloß, welche? Und warum belästigt man mich damit, dieses Rätsel lösen zu sollen?
Hatte sich das Anliegen während des Anrufs etwa bereits erledigt? (»Momentchen?… muss mir für die Morddrohung noch ein Taschentuch vor den Mund halten.«) Oder lümmelte sich jemand mit Telefon in der Gesäßtasche und tätigte unkontrolliert Telefonate? Oder hatte sich die Mitteilung tatsächlich erübrigt, weil ich nicht sogleich zu sprechen war (»Hallo, ich entschärfe gerade eine Atombombe und hab noch dreißig Sekunden — soll ich erst das blaue oder das rote Kabel rausziehen?«)
Fünfmal hatte Gesine Stabroth versucht, mit mir telefonisch Kontakt aufzunehmen. Das konnte ich sehen, als ich vor den wild blinkenden Anrufbeantworter trat. Meine Gedanken stolperten übereinander wie die Polizisten in den Dick-und-Doof-Filmen. Einerseits: Wer innerhalb einer Stunde fünfmal versucht, mich ans Telefon zu bekommen, hat wohl ein wichtiges Anliegen. Andererseits: Wer fünfmal die Gelegenheit verstreichen lässt, mir zu sagen, um was es sich handelt, hat offensichtlich nichts mitzuteilen oder will mich nur belästigen. Nun wollte ich wohlwollend denken, Gesine Stabroths Telefon wäre von Kindern, Tieren oder Außerirdischen gekapert worden, die damit Schabernack trieben. Aber es fiel mir schwer.
Und dann kam’s dicke: Erneuter Anruf auf Festnetz (ich geh aus Trotz nicht ran!). Dann Anruf auf Mobiltelefon (Pah! So nicht!). Erneuter Anruf, wieder ohne Nachricht (jetzt werden wir albern, kann schon sein). Später entdecke ich eine E-Mail mit dem Kommando, »endlich mal zurückzurufen!« — Ich tat, wie geheißen, und siehe da: Gesine Stabroth wollte einfach mal hören, wie’s so geht, aber jetzt wisse sie, dass ich offensichtlich »komplett durchgeknallt« sei. Da dachte ich an den Witz von dem Geisterfahrer, der sich wundert, wie viele Geisterfahrer auf der Autobahn unterwegs sind.
Das Gesine-Stabroth-Desaster ist eine typische Abfolge entfesselter moderner Kommunikation ohne ethische Richtschnur. Sie ist geprägt von Unduldsamkeit. Es liegt ja mitunter viel Aufdringlichkeit in einem Schweigen. Umso mehr, da es üblich geworden ist, dass der stumme Anrufer meint, es sei nun an mir — dem wortlos Vollgequatschten —, ihn aufgrund dieser nicht zu deutenden Schweige-Botschaft zurückzurufen, und zwar umgehend.
Aber nicht nur Gesine Stabroth geht so vor. So desgleichen mein Telefonanbieter, die Krankenkasse und zahlreiche Besitzer von Rufnummern, die ich nicht kenne, hinter denen sich aber Menschen verbergen, die nicht wissen wollen, wie’s mir geht, sondern ob ich noch Geld für »Spar-Tarife« oder »zusätzliche Komfort-Leistungen« unterm Kopfkissen horte.
Jeder empfindsame Mensch wird sich aufgrund solch eines stummen Telefonterrors angerempelt verkommen. Doch die Rollen werden vertauscht: »Sie sind ja schwer zu erreichen«, sagte die professionell heitere sexy voice meines Telefonanbieters vorwurfsvoll, als ich in einem schwachen Moment doch abgenommen hatte. Jetzt kann ich irgendetwas mit meinem Telefon anstellen, von dem ich nicht weiß, was. Nur, dass es knapp zehn Euro mehr im Monat kostet. Als ich das Gesine Stabroth erzählte, fragte sie entgeistert, warum ich »so treudoof sei, immer ans Telefon zu gehen«.