Eine Flöte ist keine Trillerpfeife
»Hätte ich nicht gedacht, dass man das auf einer Blockflöte machen kann.« Solche Kommentare bekommt Dorothee Oberlinger regelmäßig nach Konzerten zu hören. Der Blockflöte haftet eben nach wie vor der Ruch von musikalischer Früherziehung und Kinderchor an. Kein Wunder: Während man für Geigen stets tief in die Tasche greifen muss, gibt es Plastikflöten schon ab 20 Mark. Mit dem teuren Instrument wird zugleich die höhere Kunst verbunden, vor allem aufgrund der Rolle der Geige in der bürgerlichen Tradition der Klassik und Romantik. Paganini lässt grüßen. »Wie auf einer Trillerpfeife bekommt man auf einer Blockflöte natürlich sehr schnell einen Ton raus«, räumt Dorothee Oberlinger ein. Doch mit Blockflötenmusik hat das noch nichts zu tun. Wie virtuos die sein kann, zeigt die Musikerin mit ihrem Ensemble ornamente 99. Der Name ist Programm. Ebenso ausgiebig wie lustvoll werden Melodielinien verziert, übermütig Reibungen betont und Affekte zur Schau gestellt. Die Grenzen zur Improvisation sind fließend. »Die spontane Verzierung wird in der Barockmusik viel zu selten praktiziert«, findet Oberlinger. Barock ist für sie verschroben, bizarr und auffällig. Das Gegenteil von klassischem Ebenmaß. »Man sollte gerade nicht versuchen, die Ecken und Kanten der Barockmusik zu glätten, sondern sie hervorheben, ähnlich den Verzierungen an den Schlössern. Barockmusik ist für mich nicht der große Pinselstrich, sondern das Kleine im Kleinen, das Filigrane, die Betonung der Mikrostrukturen«.
Wie auf mittelalterlichen Abbildungen
Davon lebt »London Musick«. Auf dieser CD hat Oberlinger ornamente 99 Werke von Komponisten, die um 1700 in London wirkten, eingespielt. Gerade wegen der lebendigen und farbigen Interpretation wurde die Aufnahme von der Kritik gelobt, auch wenn die ausgewählten Stücke kompositionstechnisch nicht immer originell sind. Das Meiste steht bei der Alten Musik sowieso nicht im Notentext. Wie eine Archäologin kommt sich Do-rothee Oberlinger vor, wenn sie Fragen der Artikulation, der Tongebung, des An- und Abschwellens des einzelnen Tones zu lösen hat.
Das Ensemble Bois de Cologne, das Dorothee Oberlinger mit dem Harfenspieler Tom Daun und der Flötistin Meike Herzig vor vier Jahren gegründet hat, geht noch weiter in die Vergangenheit zurück. Harfen und Flöten gibt es schon auf mittelalterlichen Abbildungen.
Im Sinne der reinen Lehre historischer Aufführungspraxis sind die Annäherungsversuche des Ensembles mitunter ketzerisch. Etwa auf »Stella splendens«, einer Einspielung mit spanischer Musik aus vier Jahrhunderten, die zusammen mit der Sängerin Maria Jonas entstanden ist. Hier wird auch mal auf eine gregorianische Melodielinie mit Flöten improvisiert oder eine Subbassblockflöte eingesetzt, im Mittelalter eigentlich undenkbar. Das Ensemble nimmt sich die Freiheit zum farbigen Experiment. Die exakte historische Rekonstruktion dieser frühen musikhistorischen Schichten bleibt eh eine Illusion. Es kann lediglich Annäherungswerte geben. Prägend war für Dorothee Oberlinger das Studium bei dem Mittelalter-Spezialisten Pedro Memelsdorff: »Er hat mich das richtige Timing in der Melodie gelehrt. Wie du einen Ton so bringst, dass er besonders berührt. Hier kamen wir wirklich an die Essenz von Musik.«
Neue Musik und die Grenzen des Machbaren
Neben Alter Musik hat sich Dorothee Oberlinger bereits während des Studiums an der Musikhochschule Köln mit Neuer Musik befasst. 1997, als sie den ersten Preis beim internationalen Blockflötenwettbewerb »Moeck U.K« gewann, spielte sie das Stück »Fast« des zeitgenössischen Schweizer Komponisten Hans-Jürg Maier – auf einer neuentwickelten Tenorflöte, mit der sie die technischen Möglichkeiten des Instrumentes ausweiten konnte. Seit Jahren arbeitet Dorothee Oberlinger intensiv mit der Kölner Komponistin Dorothee Hahne zusammen: »Ich ging zu ihr und brachte meine 20 verschiedenen Blockflöten mit, kleine und große. Und ich habe ihr dann gezeigt, was man alles Verrücktes auf dem Instrument machen kann.« Über Dorothee Hahne wiederum entdeckte die Flötistin die Elektronische Musik für sich. Es fasziniert sie, die Klänge zu verfremden, zeitlich zu verschieben, sich selbst zu begleiten. Überhaupt reizen sie die vielfältigen Möglichkeiten in der Neuen Musik, bei Stockhausen die szenischen Anforderungen des Vortrags, bei Luciano Berio die Aufspaltung einzelner Parameter des Flötenspiels. Dorothee Oberlinger mag solche Stücke, »die an die Grenzen des Machbaren gehen.« Mit dem von ihr gegründeten Ensemble Strings & Air Cologne stellt sie die Flöte in den Dialog mit Streichinstrumenten wie Gitarre, Cello oder Harfe. So spielte sie im Juni in der Alten Feuerwache mit dem Gitarristen Nangialaf Nashir Stücke von Stockhausen, H.P. Platz, John Cage und Gieselher Klebe. Im Herbst kommt ihre Solo-CD »Peripheries« heraus, mit Neuer Musik sowie Werken von Hildegard von Bingen und anderen VertreterInnen Alter Musik.
Dorothee Oberlinger ist als Künstlerin typisch für eine neue Generation von GrenzgängerInnen zwischen Avantgarde und Archaik. Gemeinsam ist allen die Vorliebe für das Experiment und für Improvisation. »Die Möglichkeit, kreativ aus dem vorgegebenen Material etwas mit einer eigenen Note zu schaffen, finde ich in der Alten und der Neuen Musik gleichermaßen«, sagt die Flötistin. Die klassisch-romantische Tradition mit ihren relativ eng gesteckten Grenzen ist Dorothee Oberlinger zu wenig. Am 21. September erhält sie den »Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstlerinnen und Künstler für das Jahr 2001« – nicht zuletzt wegen ihres künstlerischen Spagats zwischen Alt und Neu. Die Auszeichnung geht zum ersten Mal an eine Blockflötenspielerin. Soviel zum Vorurteil, die Blockflöte sei eine bessere Trillerpfeife.
Aufnahmen: ornamente 99: »London Musick« ; Bois de Cologne + Maria Jonas: »Stella splendens«
Im Herbst erscheinen: Bois de Cologne: »Alte Musik für Blockflöten und Harfe«; Dorothee Oberlinger: »Peripheries«; Dorothee Oberlinger: »Antonio Vivaldi. Blockflöten-Konzerte«
(alle Platten beim Kölner Label Marc Aurel Edition)