Auseinanderklamüserungen

Am Ende des Jahres ist alles voller Unrat und Gerümpel. Als habe die Zeit wie mit einem Besen den Dreck der Tage bloß immer weiter vor sich her gefegt, hat sich in der hintersten Ecke des Dezembers ein großer, breiter Haufen Kehricht angesammelt. Wer macht den weg? Es ist ein Wust. All jene Aufgaben, deren Bewältigung, ja Lösung, angekündigt war, sie sind nun Liegengebliebenes. Es will geordnet, sortiert und solcherart doch noch bewältigt werden. Auseinanderklamüserungen allenthalben. Wohin aber mit all den nutzlos gewordenen Hoffnungen und Wünschen, die man bald schon fallen ließ, war’s im März bereits, war’s im August? Nun starren sie stumm und vorwurfsvoll als Rest uns an, und man gibt besser Acht, nicht über sie zu stolpern und doch noch fallen. Ja, aber wie lässt sich dieser Plunder nur entsorgen?

 

Früher war’s gang und gäbe, zum Jahreswechsel einen Vorsatz für die Zukunft zu fassen, um das Alte und Falsche im Dunst der Erinnerung zurückzulassen. Heute ist dies ein Brauch, den die Mode nicht mehr mitschleppen will, ist’s doch jedes Jahr dasselbe. Wo bislang Bier, TV und Pommes war, soll Saft und Sport und Schonkost sein. Wer will denn das noch hören oder glauben, sich selbst gar auferlegen?

 

Doch ist es so, dass sich Sitten und Gebräuche wohl ändern, nie aber gänzlich aufgegeben werden. Allerseelen heißt jetzt eben Halloween. Es ist lauter, bunter und irgendwie: mehr. Alles wird ja irgendwie: mehr. Aus dem Vorsatz für’s neue Jahr, den man kundtat, auf dass man ihn vor Zeugen erfolgreich befolge, sind Listen geworden. Nicht Listen mit Vor­sätzen. Sondern Listen mit besten Filme und Platten, Büchern und Ballerspielen. Früher erstellten dergleichen anerkannte Fachleute, heute fühlt sich ein jeder dazu berufen.

 

Tobse Bongartz veröffentlicht derzeit seine »Jahres-Charts« auf sämtlichen Kommunikationskanälen. Ich habe schon Sorge, dass er mich anruft und sie mir vorträgt. Sammeln und sortieren, bewerten und nummerieren, das alles mit dem Tatendrang von Jungs in kurzen Hosen und der Pedanterie einer von Vatikan und sowjetischem Politbüro besetzten Zensurbehörde. Aber wer hat Tobse Bongartz denn verdammt noch mal eingeredet, dass es wichtig sei, dass er Dubstep-Maxis, Graphic Novels und »die besten US-Serien (Originalfassungen)« solcherart aufbereitet? Und für wen? Es ist noch nicht einmal ein Service, der großzügig Unkundigen bereitgestellt würde. Diese Tabellen dienen bloß der Selbstvergewisserung: Ich bin noch da, ich bin der Tobse und vor allem: auf dem Laufenden. 

 

Bezeichnenderweise leiten sich diese privaten Hitparaden aus einer älteren literarischen Miniaturform ab: dem Wunschzettel. Nur verhält es sich jetzt umgekehrt. Nicht, was man vom Weihnachtsmann haben will, schreibt man auf, sondern das, was man hat, im Kopf und im Regal. Tobse Bongartz‘ »Jahrescharts« sind eine Art kostbarer Kassenbon, der ihn schmückt: Schaut, diese Kultur- und Konsumgüter habe ich mir anverwandelt, und nicht nur diese, sondern noch viel mehr, aber eben jene habe ich erkoren, die Besten genannt zu werden — nun glaubt mir und achtet meine Kenntnisse und Wertungen hoch. Und so gibt es unter anderem Tobse Bongartz‘ Top-Ten der besten »Pop-Songs 2013«, in der keinesfalls ein Stück aus dem Radio auftauchen darf. Ach, Menschen erschaffen absonderliche Dinge, weil sie das, was sie eigentlich ausdrücken möchten, nur verklausuliert vermitteln wollen. So was ist gar nicht schlimm, aber es ist eben ganz furchtbar umständlich. Deshalb gibt es mehr zertrümmerte Bus-Wartehäuschen als Liebesgedichte. Das sollte ich Tobse Bongartz einfach mal sagen. Das ist mein Vorsatz für das kommende Jahr. Oder ich sage Tobse was anderes: dass seine Listen ein grundsätzliches Problem haben. Sie müffeln nach Klugscheißerei.