Sie wollten nicht begreifen
Der Titel klingt zunächst nach rein juristischen Selbstbetrachtungen, doch mit »NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945« ist Anne Klein und Jürgen Wilhelm ein kritisches und umfassendes Buch gelungen. Die Texte des Bandes dokumentieren eine Tagung der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vom November vergangenen Jahres. Sie öffnete den Blick auf den gesellschaftspolitischen Kontext bis zum Beginn der 80er Jahre, in dem die juristische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Köln stattfand.
Vor allem die Beiträge von NichtjuristInnen und von ReferentInnen aus dem Ausland führen die Zustände in diesem Land (und in unserer Stadt) vor Augen, vor deren Hintergrund die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen stattfand: Geradezu peinlich steht die deutsche Justiz da, verstrickt in institutionelle Sachzwänge und stets bemüht, ihr Verhalten durch ein Dickicht prozessualer Fußangeln zu entschuldigen. Die Diskussion auch um diese »Verstrickungen« der Kinder der Täter ist längst nicht vorbei. In der Zeitschrift Tribüne bewertete Andreas Disselnkötter kürzlich das NRW-Forschungsprojekt »Die nordrhein-westfälische Justiz und ihr Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit« (1996-2000) als »Persilschein« für die mit der Strafverfolgung befassten Staatsanwälte und ihre übergeordneten Dienstellen.
Schergen und Mörder entlasten sich gegenseitig
Christiaan Frederik Rüter aus Amsterdam geht mit seinem Beitrag zur Kölner Justiz in den 50er Jahren ins typische Detail: In einem der wenigen Verfahren überhaupt, hier gegen die Leiter der Kölner Staatspolizei und des Judenreferats, verantwortlich für rund 12.000 Deportationen aus Köln, werden Mindeststrafen oder Freisprüche ausgesprochen; es entlasten sich die Schergen und Mörder gegenseitig. Was in Köln geschah, spiegelt die Situation in der gesamten Bundesrepublik wieder: Mitte der 50er Jahre sind fast alle Verurteilten wieder frei, bekleiden Nazis nicht nur Amt und Funktion in Wirtschaft und Zivilverwaltung, sondern auch in der Justiz.
Doch es zählen nicht allein die personellen Kontinuitäten (ein Beispiel: Werner Pfromm, einst führender NS-Offizier und ab 1974 Generalstaatsanwalt in Köln). Christiaan Frederik Rüter geht weiter. Die Apparate der Strafverfolgung und Rechtsprechung hatten nicht begriffen, wollten nicht begreifen oder hatten tatsächlich keine juristische Handhabe, um zu erkennen: Bei dem NS-System handelte es sich um einen verbrecherischen Staat – mit kriminellen Vereinigungen, die Behörden hießen, wie etwa das Reichssicherheitshauptamt, gegen das über 20 Jahre nicht ermittelt wurde.
Wolfgang Weber berichtet in seinem Beitrag aus der eigenen Praxis als Staatsanwalt und Leiter der Zentralstelle Köln zur Verfolgung von NS-Massenverbrechen in Konzentrationslagern. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Rolle von Zeugenaussagen als Beweismittel und beklagt die mangelnde »Aussagetüchtigkeit« der Zeugen in seinen Verfahren und deren »eingeschränkter Wahrnehmungsbereitschaft«. Die Reduktion auf die Schwierigkeiten bei der Beweisführung ist eine Standard-Argumentation deutscher Staatsanwaltschaften.
Die Bewertung von Zeugenaussagen der NS-Opfer ist auch Spezialgebiet des Kölner Psychologen Peter Liebermann, der bundesdeutschen Koryphäe auf dem Gebiet der Forschung zur Traumatisierung von Folteropfern: Erinnerungslücken und »richtige Erinnerungsfragmente« dürften nicht als Widerspruch in der Sache gewertet werden, schreibt Liebermann. Er berichtet, wie grausam es für die jüdische Zeugin im Düsseldorfer Majdanek-Prozess war, als die Verteidigung sie wegen Beihilfe zum Mord im Gerichtssaal festnehmen wollte, weil sie Zyklon B in die Gaskammern tragen musste.
Historischer Krimi
Durch das Kapitel zum Kölner Lischka-Prozess (1979/80) und insbesondere den Beitrag von Beate Klarsfeld wird das Fachbuch zum historischen Krimi. Kurt Lischka, einer der Hauptverantwortlichen für die Deportationen aus Frankreich und deswegen dort 1950 zu lebenslanger Haft verurteilt, lebte Jahrzehnte unbehelligt in Köln. Seit 1971 versuchten Beate Klarsfeld und ihre Freunde, Lischka gewaltsam nach Frankreich zu entführen – denn in der Bundesrepublik galt Straffreiheit für die bereits in Frankreich, wenn auch in Abwesenheit, verurteilten NS-Täter.
Beate Klarsfeld wurde mehrere Male verhaftet, wieder freigelassen, organisierte Demos in Köln und war auf internationalem Parkett aktiv. Unter einer in Deutschland bis dahin nicht gekannten Präsenz der Medien erreichten sie und ihr Mann Serge Klarsfeld als Nebenkläger schließlich die Prozesseröffnung und die Verurteilung von Lischka und zwei weiteren Mitangeklagten (Herbert Hagen und Ernst Heinrichssohn) zu Freiheitsstrafen – 35 Jahre nach ihren Taten.
Doch Fragen bleiben: Warum etwa wurden vor dem Lischka-Prozess weitere 70 Verfahren des Komplexes von der Generalstaatsanwaltschaft Köln abgetrennt, was dann zu keiner weiteren Verurteilung führte? In der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit forscht seit der Tagung hierzu ein Arbeitskreis.
Das Buch
NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945. Für die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit herausgegeben von Anne Klein und Jürgen Wilhelm. Greven Verlag, Köln 2003, 288 S., 19,90 Euro