Keinerlei Schwellenangst
Mitunter entsteht der Eindruck, dass die Hoffnung umso größer wird, je kleiner der Gegenstand ist, der zu ihr Anlass gibt. Die Mikroelektronik war so ein Fall, die Gentechnologie auch. Und nun, noch kleiner: Nanotechnologie. Glaubt man ihren Propheten, wird sie, insbesondere ihre Spielart Nanobiotechnologie, das Paradies auf Erden entstehen lassen.
Eine Einschätzung des späteren Physik-Nobelpreisträger Richard Feynmann geäußert im Jahr 1959 war der Anlass zu den Visionen: »So weit ich sehen kann, sprechen die Gesetze der Physik nicht dagegen, Dinge Atom für Atom zu bauen.« Genau das ist das Anliegen der Nanotechnologen, neue, winzig kleine Geräte Atom für Atom selbst zu bauen. »Möglich ist das meiste« sagt eine Binsenweisheit, die mit der modernen Physik erstaunlich gut übereinstimmt – lehrt doch die Quantenmechanik, dass man Behauptungen über submikroskopische Ereignisse nach Wahrscheinlichkeitsgraden einzuteilen habe. Doch das was Wissenschaftler, Techniker und Technokraten an Ausblicken gewähren, klingt schon reichlich unwahrscheinlich.
Unbestimmte Lebensverlängerung statt Unsterblichkeit
Molekulare Maschinen sollen es also sein, im Idealfall sogar »selbstreplizierende«. Eine einzige davon genügt, um sich Rohstoffe zu beschaffen, aus denen sie endlose Mengen ihrer selbst herstellen kann: ein »von Neumann-Apparat«, benannt nach dem Physiker, der das mathematische Prinzip der Selbstreplikation als erster formulierte. Gemeinsam mit der Gentechnik soll dann durch Gewebe-Reparaturmaschinen und Diagnose-Nanosonden »Emortalität« nahe rücke. Damit ist im Sprachgebrauch des britischen Autors Brian Stableford im Gegensatz zur märchenhaften »Immortalität«, also der echten Unsterblichkeit, eine »effektive Immortalität« (daher das »E«) gemeint, die auf unbestimmte Lebensverlängerung und permanente Wiederherstellung geschädigter biologischer Funktionseinheiten hinausläuft. Nanobagger kratzen Blutgefäße von gefährlichen Fettablagerungen oder Kalk frei, belastbare Nanofasern weben sich durch degenerierte Muskelstränge, Tumore werden von Minisatelliten aufgespürt und zerstört. Arm- oder Beinprothesen können durch die Verschaltung von Nervensträngen und Mikrochips wie natürliche Arme oder Beine bewegt werden, und Blinde werden durch künstliche Netzhäute wieder sehend.
Alles Science-Fiction? Nicht unbedingt. Bereits heute surfen Forscher der Uni München mit einem sogenannten Nanomanipulator über die Erbsubstanz, wie Ärzte mit dem Endoskop durch die Innereien von Patienten. Interessante Gene werden mit unvorstellbar kleinen Werkzeugen, Nanoschaufeln, abgetrennt, anschließend vermehrt und analysiert. Mit sogenannten Nanopartikeln wird an der Universität Saarbrücken experimentiert. Diese sind so klein, dass sie Medikamente selbst durch natürliche Barrieren, wie die Blut-Hirnschranke, hindurch an den gewünschten Zielort bringen können. Nanoplexe schließlich, mit Gensequenzen bestückte Nanopartikel, sollen Krankheiten gentherapeutisch behandeln helfen. Und die Kölner Firma Direvo Biotech AG träumt bereits davon die nötigen Wirkstoffe dafür maßzuschneidern.
Die Evolution der Biomoleküle
»Die Gentherapie ist angewiesen auf Gensequenzen, die bestimmte Krankheitsbilder bekämpfen. Für die Generierung und Optimierung dieser Gensequenzen ist die evolutive Biotechnologie optimal geeignet«, so Direvo-Chef Andre Koltermann. Evolutive Biotechnologie: der Begriff wurde vor rund 20 Jahren von Direvo-Gesellschafter und Chemie-Nobelpreisträger Manfred Eigen kreiert und bezeichnet die Anwendung von Prinzipien der Evolution um Biomoleküle mit gewünschten Funktionen zu entwickeln. Auch wenn dies noch nicht »State of the Art« ist, wie Direvo zugibt, ist die Firma zuversichtlich, dass »die Möglichkeiten, Biomoleküle für technische Zwecke einzusetzen, in absehbarer Zukunft allein durch die menschliche Fantasie begrenzt« sein wird.
Sollte die Fantasie einmal nicht ausreichen um ein Gebrechen erfolgreich zu behandeln, kann man sich in der Vision des Nanotechnologiepropheten K. Eric Drexler immer noch einfrieren lassen und auf eine noch weiter fortgeschrittene Superzukunft warten, in der man aufgetaut und geheilt wird. Die »Kryogenik« gab es als Idee schon in den späten 60ern und frühen 70ern in den USA. Eine Zeitlang liefen Gerüchte über Prominente um, die sich angeblich bereits hätten einfrieren lassen, darunter Walt Disney. In Science Fiction-Filmen wurde der Kälteschlaf bald zur bequemen Lagerungsmöglichkeit für Astronauten, die Jahrzehnte oder noch länger durchs All reisen. Das Problem dabei ist freilich die Wiederbelebung – ein Punkt, über den die Kryo-Enthusiasten immer verschämt hinwegsahen – bis Drexler kam, und das Nanoversprechen. Beim Abkühlen von Geweben wird auch das Wasser, aus dem wir zu einem sehr hohen Prozentsatz bestehen, abgekühlt, wird Eis, dehnt sich aus, Gewebe zerreißen ... kein Problem mehr mit Nano-Gel und Zellreparaturmaschinen!
Nanobiotechnologie in Deutschland
Wie realistisch aber ist das alles – und wie unvermeidbar? Der Wissenschaftsjournalist Lutz Schulenburg zitiert 1995 in seinem Buch »Nanotechnologie » den Bochumer Professor für Allgemeine Elektrotechnik und Akkustik Jens Blauert hinsichtlich nanoskaliger Hörimplantate mit den Worten: »Wir können es nicht aufhalten, es kommt. Wenn wir dabei sind und selber mitmachen, können wir Weichen stellen.« Dieser Ton klingt wie der heute in der Stammzelldebatte angeschlagene: Die technische Entwicklung wird in Prognoseszenarien isoliert betrachtet, hat angeblich eine zeitlich abschätzbare Eigendynamik und ist nicht von gesellschaftlichen Faktoren beeinflussbar.
So fließen sechs Jahre nach dem Unaufhaltsamkeits-Szenario des Bochumer Wissenschaftlers 40 Millionen Mark aus einem Förderprogramm Nanobiotechnologie der Bundesregierung an 21 Projekte in der ganzen Republik. Hamburg, München und Münster streiten sich um den Status eines Kompetenzzentrums für Nanobiotechnologie – und erhalten ihn dann alle. An allen drei Standorten entstehen schließlich auch Gründerzentren und Ursula Windmueller, Projektkordinatorin bei der Landesinitiative BioGenTech NRW für Hochschul-Spin-offs kann zuversichtlich erklären: »Hier in Münster gibt es Forschungen, aus denen in fünf bis acht Jahren Produkte entstanden sein können. Es ist Zeit Rahmenbedingungen zu schaffen.« Die Rhetorik ist sowohl von der Sorge um Drittmittel wie von dem Wunsch, an einer tatsächlich aufregenden neuen Entwicklung teilzunehmen, geprägt.
Die Aufregung ist durchaus gerechtfertigt, es geht da um sehr fundamentale Dinge. Kürzlich gelang es Peter Fromherz vom Max-Planck-Institut für Biochemie im bayerischen Martinsried erstmalig Nervenzellen mit einem Computerchip zu verbinden. Allerdings handelte es sich um die Zellen einer Schnecke, die fünfmal größer sind als die eines Menschen. Eine Verknüpfung menschlicher Nervenzellen mit einem Chip wäre die Grundlage für neuartige Prothesen. Am Institut des Bonner Neuroinformatikers Rolf Eckmiller wird derzeit an einer lernfähigen Sehprothese geforscht. Eine Kontaktfolie soll zur Überbrückung der defekten Netzhaut implantiert werden. Sie ist über einen Empfänger mit einem Minicomputer und mit Fotosensoren zur Bildaufnahme in einem Brillengestell verbunden. An der Uni Tübingen wird sogar eine künstliche Netzhaut entwickelt, in die Sensoren und Chip integriert sind.
Neurochips und menschliches Bewusstsein
Hinsichtlich der nanoskaligen Verschaltung von Computerbauelementen mit Nervenzellen oder dem Zentralnervensystem selbst, das neben therapeutischem Nutzen auch Fragen über die Reichweite und Beschaffenheit menschlichen Bewusstseins und menschlicher Subjektivität aufwirft, geistern folgenschwere Begriffe wie »Menschmaschine« und »Cyborg« durch die Medien. Der Bonner Neurophysiologe Detlef B. Linke plädiert angesichts der in Aussicht gestellten Durchbrüche durch die »letzte Grenze« des Selbstverständnisses allerdings dafür, die Frage danach, was etwa das Bewusstsein sei, nicht vorschnell für geklärt zu halten.
Ob die etablierten biophysikalischen Modelle, von denen letztlich auch die Neurochip-Initiativen ausgehen, die Beschaffenheit des Hirns und die Frage, wieso es Bewusstsein besitzt und Wahrnehmungen »hat«, bereits vollständig haben klären können, sei »noch sehr die Frage«, so Linke: »Man kann nicht alles, was das Bewusstsein tut, auf Informationsverarbeitung reduzieren und Computeranalogien benutzen. Im Hirn spielen auch gasförmige biochemische Prozesse eine Rolle.« Wenn der Chip so etwas nicht leiste, fehle vielleicht etwas wichtiges, so Linke. Mit seinem Einwand, so Linke weiter, sei aber kein Veto gegen prothetische und therapeutische Optionen erhoben: »Wenn jemand nicht sehen oder sich nicht bewegen kann und man durch retinale oder Muskel-Implantate helfen kann, sind erkenntnistheoretische oder andere abstrakte philosophische Fragen nicht berührt. Dann muss man helfen.«
Aber kann man helfen? Die Protagonisten der Nanotech-Revolution sprechen bei dieser Frage gerne davon, ihr Forschungszweig sei einstweilen einer der »theoretischen angewandten Wissenschaften«. In seinem 1992 beim renommierten Fachverlag Wiley & Sons erschienenen (und nicht populärwissenschaftlichen) Standardwerk »Nanosystems« erklärt Drexler diesen scheinbar paradoxen Begriff (wie kann etwas theoretisch und zugleich angewandt sein). Theoretisch angewandte Wissenschaft sei derjenige Forschungsbereich, in dem technologische Möglichkeiten »nicht nach den Grenzen gegenwärtiger Labor- und Herstellungsbedingungen, sondern allein nach den Beschränkungen, die uns Naturgesetze auferlegen«, beschrieben werden sollen.
Nanobiotechdebatte: Diskutierte Theorie
Die technische Lage ist labyrinthisch. So lange das aber noch so ist, bietet die Nanobiotechdebatte eine seltene Gelegenheit. Da eine theoretisch angewandte Wissenschaft nicht mit derselben Geschwindigkeit Fakten schaffen kann wie eine tatsächlich angewandte, kann die Diskussion darüber, was gesellschaftlich gewünscht wird, einmal rechtzeitig forciert werden, statt hinterdrein hinken zu müssen. Wird Nanomedizin billiger sein als die jetzige? Wenn nicht, was zu erwarten steht, da ja Einführungskosten neuer Technologien grundsätzlich hoch sind, wer wird dann in den Genuss dieser Lebensverlängerung kommen, und wer nicht? Werden selbstreplizierende Maschinen vor Staatengrenzen halt machen? Was für Waffenpotenziale stecken in der neuen »smarten« Materie?
Anstatt abzuwarten und eine ethisch-moralische Diskurssoße über die fertigen Sachverhalte zu kippen, wie bei der Stammzellforschung geschehen, ist für die Erörterung der Frage »wem soll Nanotech gehören« noch genügend Zeit. Anstelle der von »Sachzwängen« gebeutelten »Realpolitk« mag so eine neue, geeignetere Herangehensweise an die Verzahnung technologischer und sozialer Fragen entstehen: theoretisch angewandte Politik.
Dietmar Dath ist Wissenschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ).
Dieter Kalcic ist Redakteur der StadtRevue und betreut die Serie Biopolitik.