Nicht im voraus verständigt
Basel, Badischer Bahnhof.
»Daß ein Gedicht sich nicht um den Leser kümmert, ist das Ziehende an ihm.«
Der Weg zur Wohnung von Urs Engeler führt durch den Verladebahnhof, einen Kanal entlang, an dessen Böschung die Fastnachtszüge ihre Formationen und traurigen Musiken üben. Schließlich ist man in Kleinhüningen, von da aus geht man zu Fuß zurück über die deutsche Grenze. Die Sprache bleibt die gleiche, aber die Dinge werden relativ, bekommen eine Differenz in sich, man kann sie von zwei Seiten ansehen. Das merkt man, wenn man nur einen Apfel kauft, der auf Schweizer Boden ein Mehrfaches vom deutschen Preis kostet.
»Urs Engeler Editor« ist seit 1997 der ziehendste deutschsprachige Lyrikverlag.
»Literatur, nicht auf die Sprache der geltenden Ordnung, ja nicht einmal auf die geltende Ordnung der Sprache, den untereinander im voraus Verständigten selbstverständlich, verpflichtet, verschreibt sich keiner als selbstgewählter Vorschrift, die Utopie vorgesellschaftlicher Ungebundenheit, Anarchistisches erprobend, in den Text rettend, der, jedesmal, wenn es gut geht, die Welt von vorn anfängt.«
Neun Titel sind für den Herbst 2003 angekündigt, jeder von ihnen so apart, dass keine Kurzbeschreibung ihm beikommen könnte. Lyrik? Nein, freier: Bücher. Die sich in ihrer luxuriös-bescheidenen, schönen Schwere wie von selbst in die Hand legen. Darin: Poesie.
»Poesie, die Selbstverständlichkeit der über alles verhängten Zweckzusammenhänge suspendierend, löst, was in sie eingeht, aus dem Zwang, nützlich sein zu müssen. Wie sollte sie selber es sein oder rechtfertigen wollen, daß sie es nicht ist? Das sie ist, genügt.«
Die Poesie der Bücher von Urs Engeler: Man glaubt wieder am Anfang zu stehen. Das erste Buch zu lesen. Alles andere wird unwichtig, nur das Buch in der Hand ist selbstverständlich. Als ich Hans-Jost Freys »Wortstellungen zur Stellung der Poesie« lese, mache ich Abschriften daraus für diesen Text. Frey spricht, Lücken duldend, über Poesie.
»Die Poesie ist der Wind, nicht der Papierdrache, den er zum Fliegen bringt.«
Engeler hat bei dem Züricher Komparatisten Frey studiert, mittlerweile ist er dessen Verleger. Und der von Michael Dornhauser, Urs Allemann, Elke Erb, Birgit Kempker, Oskar Pastior, Andrea Zanzotto, Peter Waterhouse, Michael Stauffer. Die Liste ist länger, liest sich wie eine Bibliothek der avancierten Gegenwartslyrik. Gegenwartslyrik? Nein, vernetzter: Literatur. Viele der von Engeler edierten Autoren arbeiten multimedial; Theater, Rundfunk, Performances, Film. Und lassen das in ihre Texte einfließen. Und Engeler setzt dies um: Für jedes Buch entwickelt er ein neues Konzept, oft gehören dazu CDs, die jedoch nicht einfach das Gedruckte hörbar machen, sondern es inszenieren, eine neue Textorganisation finden. Ein Beispiel: Für Mirko Bonnés Übersetzung von e.e. cummings wurde das Seitenverhältnis von Original und Übersetzung aufgelöst. Stehen sie sich sonst auf zwei Buchseiten gegenüber, sind sie in »39 Alphabetisch« nach den Anfangsbuchstaben des ersten Verses geordnet. cummings, der verspielte Systeme aus Zahlen und Anordnungen liebte, hätte an dieser Übertragung von poetischen Verfahren in den Buch-Raum sicher seine helle Freude gehabt. Der Leser verliert sich nach der ersten Irritation in der Abfolge von englischen und deutschen Texten, wird immer wieder selbst Übersetzer.
»Unter den Hervorbringungen der Menschen das Bleibendste: was am wenigsten nützt.«
Engelers Projekt wäre nicht möglich ohne das Mäzenatentum eines Stuttgarter Zahnarztes, der die Herstellung der Bücher finanziert ohne sich inhaltlich in das Programm einzumischen. Warum auch? Seit Jahren werden Engelers Bücher und Autoren mit Preisen bedacht. In diesem Jahr bekam Engeler schon den Deutschen Hörbuchpreis und den Preis Schönstes Schweizer Buch für »Fümms bö wö tää zää Uu. Stimmen und Klänge der Lautpoesie«. Und Farhad Showghi, ein in Hamburg lebender persischer Schriftsteller und Übersetzer, gewann einen der Preise beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Doch das ist nicht der Maßstab des Mäzens; er versteht seine Unterstützung als Dienst an der Sprache.
»Erst der Rand der Sprache erschließt den Raum.«
Ich erinnere diesen Satz Sentenz von Frey, als ich vorbei an einem Haus, in dem C.G. Jung lange hier in Kleinhüningen lebte, auf Engelers Wohnung zugehe und nochmal über das Interview nachdenke. Welches Buch soll ich herausgreifen? Vielleicht das neue Heft von Engelers Lyrikzeitschrift Zwischen den Zeilen, das Ulf Stolterfoht zusammengestellt hat. »11 Widerstandsnester« enthält es; Thomas Kapielski, Oswald Egger, einige bekannte Namen, aber auch viele Neuentdeckungen. Aber man kann sich dem Projekt nur annähern, es umreißen, Bilder zeigen von den Büchern, dem Verleger. Dem Kunst-Anspruch, den diese Bücher stellen, begegnet man erst, wenn man sie liest.
»Was ist ein Buch?«
Interview - montage [mit Hintergrundgeräuschen]. Gesprächspartner: Urs Engeler, aufgenommen 19.6.2003, Basel, Rheinpromenade.
»Autoren machen Manuskripte. Ein Buch zu machen heißt Umgang mit dem Manuskript. Wesentliches von dem verstehen, was ein Autor macht und dafür eine adäquate Form finden. Alles, was mit dem Buch zusammenhängt, wird aus dem Buch abgeleitet. Für mich stellt sich jedes Mal die Frage wieder: Was ist ein Buch? Dabei ist nichts selbstverständlich, fängt alles immer wieder von vorne an: vom Papier, der Typographie bis zur Anordnung der Texte auf den Seiten. Es ist ökonomisch ein Wahnsinn, Bücher nicht nach Schablonen herzustellen, Büchermachen als etwas zu betreiben, das mit Differenz zu tun hat.
Als ich begonnen habe, dachte ich, ich mache einen Mainstreamverlag. Gute Literatur. Der Literaturbegriff hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert: Man hat sich geeinigt, dass Konventionen notwendig sind, dass man an Konventionen nicht rütteln soll. [Ein hupender Dampfer fährt vorbei] Alles, was einen zweiten, dritten, vierten Boden hat, soll nicht mehr vorkommen. Man schätzt, was einfach ist. Das ist eine enorme Entwertung des Begriffs ›Literatur‹. Eine Diffamierung im Zeichen der ›Unterhaltung‹ und des ›Populären‹. So werden Dinge in die Welt gesetzt, die keinen Anspruch haben. Die ihre Berechtigung darin finden, dass mehr Leute sich damit ›identifizieren‹ und ›unterhalten‹ können. Damit wird aber geistiges Kapital verspielt. Es ist logisch, dass nicht jeder mitspielen kann. Auch ich kann nicht in allen Diskursen mitmischen, weil sie meinen Horizont überschreiten, oder weil ich keine Zeit habe, mich damit zu beschäftigen, um in das Spiel eintreten zu können. Die Faltung des Gehirns vergrößert sich, wenn man sich mit schwierigen Dingen beschäftigt. Man kommt auf Gedanken, die in anderen Kontexten brauchbar sind.
Wenn Poesie über das Erleben von Glück, Erfülltheit im Moment des Lesens, wenn Sie darüber hinaus einen Sinn hat, dann, dass sie Menschen reicher macht, ihnen ermöglicht, das andere Leben, das sie umgibt, zu dem beizutragen, auch dieses andere Leben reicher zu machen. Das klingt antiquiert. Aber es ist meine Erfahrung.
Poesie ist Konzeptwissen. Die Möglichkeit anders zu denken. Nicht Resultate. Mehr ein Werkzeugkasten: die Sprache. [Kinderlallen im Hintergrund] Wenn man Bereitschaft, Offenheit, Durchlässigkeit mitbringt.
Poesie ist immer etwas, das durch Sprache passiert. Ein Sonnenuntergang ist nicht poetisch. Durch Sprache geschieht etwas, das den ganzen Menschen angeht; Intellekt, Gefühl, Körper. Ein Gefühl gesteigerter Präsenz. [Dampferhupen] Die größtmögliche Wachheit.[Aufnahme gestört durch Handy-Funksignal] Das würde ich als Poesie bezeichnen. Andere erleben diese Wachheit durch etwas anderes. [Dampferhupen] Hin und wieder knallen die Dampfer auch gegen die Brückenpfeiler.
Die Autoren sind nicht Widerstandskämpfer, das wäre zu absehbar. Eher ›Nester‹; Sammlung, Verklumpung von etwas. Was man nicht mehr richtig durch die Blutbahn kriegt. Das kann auch mit Infarkt enden. [Zigeunerstraßenmusik nähert sich] Das muss nicht gut ausgehen. Es geht auch um nichts Gutes, Moralisches. Es geht um Momente von Widerstand, von Unfällen, Dramen, Tragödien. Wenn man mit der Literatur Schwierigkeiten bekommt, wenn man sich ärgert, sie nicht versteht, dann halte ich das für grundsätzlich bereichender als wenn ich einfach nur nicken kann: ›So ist das halt.‹«
Zitate im Text aus »Wortstellungen zur Stellung der Poesie« von Hans-Jost Frey, Engelers Lehrer.