Hinault gebiert einen Betonmischer
Wenn am 27. Juli die Teilnehmer der diesjährigen Jubiläums-Tour de France die letzten Runden auf den Champs-Elysées gedreht haben, beginnt für den Radsport-Aficionado vor dem Fernseher die schwerste Etappe des Jahres. Der Entzug beginnt. Gut zu wissen, dass in diesem Jahr einige Bücher erschienen sind, die dem Radsport-Fan über diesen furchterregenden Hungerast hinweghelfen.
Von Mythen, Helden und Geschichten
Sind die Sportteile diverser Tageszeitungen am Montag erst einmal verarbeitet, macht sich als erstes der Mythenhunger bemerkbar. Analysen – schön und gut, aber die Tour lebt von ihren Geschichten. Eine schier nicht enden wollende Anzahl ebensolcher bieten »Nicht alle Helden tragen Gelb. Die Geschichte der Tour de France« von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp sowie der große ARD-Jubiläums-Bildband »100 Jahre Tour de France. Aus den Archiven von L’Équipe«. Zum Beispiel die von Eugène Christophes gebrochener und anschließend eigenhändig wieder zusammengeschmiedeter Gabel (1913), oder die von Nicolas Frantz, dem Gesamtsieger des Jahres 1928, der nach einem Totalschaden seines Gefährts die Etappe auf einem Damenrad beendete. Dopingaffären begleiten die Tour von Anfang an: Der erste Sieger Garin beschränkt sich noch auf Rotwein, doch schon zwanzig Jahre später reden die beiden Radprofi-Brüder Pélissier in einem Interview offen über Kokain und andere Hilfssubstanzen (Absinth übrigens stand im Ruf, die Angriffslust zu steigern). Dramatischer Höhepunkt der Entwicklung: Tom Simpsons Tod auf dem Mont Ventoux im Jahre 1967.
Garantierte Vielfalt bei der Wahl des Bücherfutters
Die beiden Bücher ergänzen sich auf geradezu kongeniale Weise. Schröder und Dahlkamp vermeiden Pathos und betrachten die Verflechtung aus Sport, Doping und Marketing mit spürbarer Begeisterung, aber ebenso kritischer Distanz. Während bei ihnen die Schwarz-Weiß-Bilder der Illustration des umfangreichen Texts dienen, ist das großformatige ARD-Buch ein wahrer Fotoband. Passend zu den dramatisierenden, von »L’Équipe« zusammengestellten Texten präsentieren sie die Tour als großes Theater: Als 1978 die Fahrer streiken, steht Bernhard Hinault in der ersten Reihe, stolz und schön wie einst Gérard Philippe.
Und jedes Jahr eine neue Story...
Solche Bilder und die Tatsache, dass der Geschichtsschreibung der Tour de France nichts anderes übrig bleibt, als in ihren Kapiteln Jahr für Jahr voranzuschreiten, verdeutlichen aber auch: »Die« Geschichte der Tour gibt es gar nicht. Sie bleibt eine offene Chronik, eine Jahr für Jahr wieder aufgebaute Bühne für all die individuellen Dramen, die den Reiz der Tour ausmachen. Wirklich erzählen lässt sich nur eine jede Tour für sich – bevorzugt als dramatischer Zweikampf zwischen einem kalten Triumphator und einem geliebten Verlierer: Anquetil gegen Poulidor, Merckx gegen Zoetemelk, Armstrong gegen Ullrich.
Briten als Aufklärer
Wenn sich der Radsport-Fan an seinem Lieblingsgericht, den Dramen, dann endlich überfressen hat, schlägt die Stunde der lustvollen Mythenzerstörung. Dieser Aufgabe haben sich, wie könnte es anders sein, zwei Briten angenommen. Der Sportjournalist Les Woodland erzählt in »Halbgötter in Gelb«, wie es »eigentlich gewesen« ist. Zum Beispiel an jenem Tag im Juli 1986 bei der Zielankunft in Alpe d’Huez, festgehalten auf einem berühmten Foto, das der Leser bereits aus dem ARD-Bildband kennt: Greg LeMond, der Träger des gelben Trikots, legt seinem alternden Teamkollegen Hinault die Hand auf die Schulter und scheint ihm den Etappensieg zu gönnen. Tatsächlich herrschen hinter den Kulissen von Bernard Tapies »La Vie Claire«-Team Misstrauen und Konkurrenz.
Tour de France im Individualformat
Der Reisejournalist Tim Moore hat sich etwas vorgenommen, von dem jeder Tour-Fan insgeheim träumt: die Strecke der Tour de France nachzufahren. Ein Mann sein. Ein Held. Ein Vater, zu dem seine Kinder voller Bewunderung emporschauen können. Die Realität indes: »Als ich das Dorf auf dem Gipfel erreichte, sah ich aus wie Bernhard Hinault, der einen Betonmischer gebiert.« Moore erzählt von seinen Erlebnissen im Land der Franzosen, vom Scheitern am Mont Ventoux und von trotzig aufrecht erhaltener Selbstachtung, von sachgerechter Hoden- und Gesäßpflege, von Verdauungsproblemen und vom Urinieren während der Fahrt (man vergesse niemals die Dispersionskraft von Fahrradspeichen) – und ganz nebenbei auch von der »richtigen« Tour und ihren Helden: »Merckx Senior, der seinem Sohn im Ziel gratulierte, befolgte offenbar noch immer den Ernährungsplan für Profis und aß 9.000 Kalorien am Tag: ›Fast Eddy‹ hatte ein ›s‹ eingebüßt.« In keinem der anderen drei Bücher erfährt man soviel über den Alltag eines Radprofis wie in diesem durch und durch komischen Tourbericht. Also sollten sich die deutschen Leser nicht von dem an übelste Schlagereindeutschungen erinnernden Titel »Von Alpenpässen und Anchovis« abschrecken lassen. Es entginge ihnen das vielleicht schönste Tour-Entzugslinderungsmittel der Saison.
Ralf Schröder / Hubert Dahlkamp: Nicht alle Helden tragen Gelb. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2003, 384 S., 24,90 €.
100 Jahre Tour de France. Aus den Archiven von L’Equipe. Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2003, 336 S., 29,90 €.
Les Woodland: Halbgötter in Gelb. Das Lesebuch zur Tour de France. Covadonga Verlag, Bielefeld 2003, 282 S., 16,90 €.
Tim Moore: Alpenpässe und Anchovis. Eine exzentrische Tour de France. Covadonga Verlag, Bielefeld 2003, 317 S., 19,80 €.