»Die Bürger sind weiter als man denkt«
Herr Brocchi, bei unserem ersten Gespräch vor zwei Jahren sagten Sie: »Wir benötigen eine umfangreiche Transformation der Stadt, und der autofreie ›Sonntag der Nachhaltigkeit‹ soll dabei als Taktgeber dienen«. Hat das geklappt?
Davide Brocchi: Dieser »Tag des guten Lebens« war ja erst mal nur eine Idee. Umso erstaunter waren alle Beteiligten über das, was dann 2013 in Ehrenfeld tatsächlich passiert ist. Zwischen 80.000 und 100.000 Menschen haben nach Polizeischätzungen teilgenommen. In diesem Jahr werden wir zwei »Tage des guten Lebens« haben, in Ehrenfeld und in Sülz. Die Politik hat gemerkt, dass ein solches Konzept Potenzial hat: Zwei Bezirksvertretungen haben einstimmig dafür gestimmt, in Ehrenfeld mit einem rot-grünen Bündnis, in Lindenthal mit einem schwarz-grünen. Der Kölner Stadt-Anzeiger, nicht gerade als Umweltmagazin bekannt, hat geschrieben: Wir brauchen mehr Tage des guten Lebens. Und die Anwohner waren sowieso begeistert: In Ehrenfeld haben die Menschen schon im Oktober gesagt, dass sie den nächsten Tag selbst organisieren möchten.
Ralph Herbertz: Die Menschen haben es genossen, ihre Straße anders zu erleben. Das Problem in Köln ist ja nicht der fließende Verkehr, sondern vielmehr der ruhende. Der frisst die Flächen, die wir dann für anderes nicht mehr haben. Mehr freier Raum ermöglicht aber mehr Kommunikation. Das war an dem Tag sehr deutlich und erlebbar.
Susana Dos Santos Herrmann: Der Erfolg ist aber vor allem durch den besonderen Charakter des Tages zu erklären. Man hat Gelegenheit, außerhalb des Alltags alternative Möglichkeiten zu proben, eine neue Sicht zu lernen. Das befördert Mobilitätsveränderung. Man kann Lehren daraus ziehen und schauen: Wie funktioniert das im Alltag? Trotzdem ist Alltag etwas anderes.
Spiegelt der »Tag des guten Lebens« also nicht eine Veränderung im Mobilitätsverhalten in der Großstadt Köln wieder?
Herbertz: Natürlich wird man an einem normalen Tag keine Fußballtore auf die Straße vor dem Haus stellen wie beim »Tag des guten Lebens«, Frau Dos Santos Herrmann. Aber es gibt einen spürbaren und belegbaren Wandel im Mobilitätsverhalten der Menschen. In den verdichteten, jüngeren Stadtteilen wie Ehrenfeld ist das natürlich stärker zu beobachten als anderswo. Aber die Bürger sind weiter, als man denkt. Beim Bürgerhaushalt 2008 betrafen über ein Drittel der Top-100-Vorschläge den Radverkehr. Wir haben Zuwachs beim ÖPNV und im Radverkehr, und in der Innenstadt sinkt der Autoverkehr.
Dos Santos Herrmann: Aber insgesamt steigen auch die Zahlen beim Autoverkehr in Köln. Ich gebe Ihnen Recht, wir haben eine Änderung im Mobilitätsverhalten. Aber wir dürfen uns da keinen Illusionen hingeben. Insgesamt haben wir einen Zuwachs bei allen Verkehrsträgern in Köln, auch beim Autoverkehr. Trotzdem: Wir haben ein anderes Mobilitätsbedürfnis als noch vor 20 oder 30 Jahren.
Ulrich Soénius: Vor allem steigt der Mix. Die Menschen entscheiden bei der Wahl der Verkehrsmittel selbst, und sie entscheiden manchmal sehr spontan, was zum Wetter passt, was zum Ziel passt. Manchmal ist das eben auch das Auto. Der Mix macht die Urbanität aus. Ich bin auch der Meinung, dass der ruhende Verkehr das Problem ist, gerade in Wohngebieten. Aber man kann den Leuten das Auto nicht verbieten. So ein »Tag des guten Lebens« ist ja toll, aber man muss das auch kritisch sehen dürfen: Dass eine Bezirksvertretung das beschließt, heißt nicht, dass alle Bürger es gut finden, wenn sie einen Tag lang ihr Auto weder benutzen noch vor der eigenen Tür parken dürfen. Man darf die Leute nicht fremd bestimmen.
Herbertz: Es geht ja nur um ein kleines Gebiet, und es gibt Ausweichparkplätze. Natürlich ist das für einige Anwohner ein gefühlter Nachteil. Aber das gilt für jedes Straßenfest und jede Filmproduktion. Ich wohne am Eigelstein, bei mir wird alle paar Tage gedreht. Diese Eingriffe für einen Tag sind von der Güterabwägung her völlig okay, immerhin ist das für nicht wenige Menschen sehr positiv.
Brocchi: Schon durch kleine Eingriffe, die den Alltag im öffentlichen Raum verändern, bekommt man die Herrschaftsverhältnisse dort zu spüren. Da ist das Auto dominant und diese Dominanz wird durch unzählige Vorschriften geschützt. Als ich das Projekt erstmals vorstellte, sagten viele Politiker: »Wir dürfen den Bürger nicht überfordern.« Der Bürger wird mit dem Autofahrer gleichgesetzt. Man darf dessen Freiheit nicht beschneiden, auch nicht an einem Tag im Jahr. Es gibt eben immer noch eine sehr verbreitete Autokultur in Deutschland.
Soénius: Für einen minimalen Teil der Bevölkerung ist das Auto vielleicht noch ein Statussymbol. Das kann man nachts auf den Ringen erleben — aber das ist nicht die Masse der Bevölkerung. Die Zeiten sind vorbei.
Hat das Auto als Fortbewegungsmittel Ihrer Meinung nach überhaupt noch eine Zukunft, Herr Brocchi?
Brocchi: Der motorisierte Verkehr ist fast zu 100 Prozent vom Erdöl abhängig. Die Ölvorkommen sind aber extrem begrenzt, die Ölförderung hat immer höhere Umweltkosten. Wir müssen unsere Abhängigkeit vom Öl deshalb senken. Benzin wird immer teurer werden, wir sollten uns darauf vorbereiten und den Autoverkehr schon jetzt reduzieren.
Soénius: Aber die Leute werden weiter Auto fahren, in Zukunft dann eben Elektromobile.
Brocchi: Auch für E-Autos benötigt man Strom und endliche Ressourcen, auch die werden ja nicht aus Luft gebaut. Wir müssen den Wandel aktiv vorantreiben. Politik ist auch dazu da, Krisen vorzubeugen, statt nur darauf zu reagieren. Der Markt allein wird es nicht richten. In einem Kontext der sozialen Ungleichheit bedeuten eventuelle Preiserhöhungen, dass sich nur eine bestimmte Schicht das Autofahren leisten kann. Wenn man die Benzinpreise nicht subventionieren will, dann muss man Alternativen bieten — und die wichtigste ist geteilte statt individuelle Mobilität: eine deutlich stärkere ÖPNV-Infrastruktur in der Region und eine andere Städteplanung. Bei der Finanzierung müssen wir auch die zur Kasse bitten, die weiter Auto fahren wollen und nicht die ÖPNV-Fahrpreise weiter erhöhen.
Dos Santos Herrmann: Das wird ja bereits reguliert. Seit Juli dürfen nur noch Autos mit grünen Plaketten in die Innenstadt.
Wie viele Autos betrifft das konkret?
Dos Santos Herrmann: Rund 20.000. Sicher, das ist angesichts von mehr als 400.000 Autos in Köln nicht viel, zeigt aber, dass etwas passiert. Ich gebe ihnen Recht, Herr Brocchi, wir müssen auf Ressourcen achten. Wir müssen schauen, dass wir andere Prioritäten setzen als in den 60er Jahren. Wenn die Pläne von damals umgesetzt worden wären, hätten wir jetzt auf dem Grüngürtel eine Stadtautobahn. Was Krisen und Konflikte anbelangt: Durch meinen Hintergrund kenne ich die Verhältnisse in Portugal ganz gut. Dort gibt es erhebliche soziale Unterschiede, aber gerade nicht so wohlhabende Menschen setzen auf das eigene kleine Auto. Einmal, weil das für sie ein Stück Freiheit bedeutet, aber auch, um einen entfernteren Arbeitsplatz gut zu erreichen.
Aber muss man die Menschen nicht auch ein wenig zwingen? Was ist zum Beispiel mit einer City-Maut nach Londoner Vorbild?
Soénius: Ich bin dagegen. Das ist nicht meine Vorstellung von Stadt, wenn der Zugang über das Portemonnaie geregelt wird. Wir müssen zudem auch an den Einzelhandel denken, der in vielen Fällen darauf angewiesen ist, mit dem Auto erreichbar zu sein. Köln muss als Einkaufsstadt jedem Verkehrsteilnehmer offen stehen. Vieles lässt sich eben nicht mit dem Rad oder zu Fuß bewerkstelligen. Wenn ich Bilder zu meinem Rahmenhändler transportiere, kann ich das nur mit dem Auto. Da muss ich auch heran fahren können. Und auch die Händler selbst müssen anliefern können. Auch da geht es mitunter nicht ohne das Auto. Zwei PCs kann ich mit dem Lastenrad transportieren, aber im Falle einer Buchhandlung sieht das schon anders aus. Man kann die auch nicht nachts beliefern, da gehen die Anwohner auf die Barrikaden.
Herbertz: Ich denke wie Herr Soénius auch, dass wir aktuell keine City-Maut brauchen, denn letztlich ist, abgesehen von größeren Baustellen, die Kölner Innenstadt im Vergleich zu Großstädten wie London nicht wirklich staugeplagt. Es sollten aber von Land und Bund Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Kommunen sich in der Zukunft für diese Option entscheiden können.
Viele Verkehrsexperten plädieren für eine Ausweitung von Tempo-30-Zonen auch auf Innenstädte. Könnte man nicht so auf den Autoverkehr einwirken?
Dos Santos Herrmann: Ich bin auch nicht dafür, den Autofahrern freie Fahrt mit Tempo 70 zu erlauben. Tempo 50 auf den Hauptverkehrsachsen ist absolut ausreichend. Und in Wohngebieten reicht Tempo 30 aus. Tempo 30 in der gesamten Innenstadt halte ich aber für falsch.
Herbertz: Ich fände Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in der Stadt — mit der Option, die Hauptachsen mit Tempo 50 zu beschildern — sinnvoll. Auch verkehrspsychologisch. Das würde zu einer Annäherung der Verkehrsteilnehmer führen. Da sind wir beim Thema Mobilitätskultur, beim Umgang miteinander. In Kopenhagen etwa ist es sehr entspannt, weil es ein anderes Miteinander, eine andere Achtung des anderen gibt. Da werden auch weniger Radwege zugeparkt oder verbotenerweise Behindertenparkplätze genutzt. Das ist eine Frage der Kultur.
Kann der »Tag des guten Lebens« da helfen?
Herbertz: Ich sehe da sogar den größten Erfolg des Tags. Eine Anwohnerin hat mir erzählt, dass sie seither eine halbe Stunde braucht, wenn sie zum Bäcker geht. Weil sie so viele Leute trifft, die sie jetzt mit Namen kennt. Die Nachbarschaften haben sich kennengelernt. Das ist ein Element, um Stadtteile zu festigen und Hilfsbereitschaft im Alltag zu fördern.
Brocchi: Auch bei der Mobilitätswende geht es darum, mehr zu teilen — und die Voraussetzung dafür ist Vertrauen unter den Menschen und eine stärkere Identifikation mit Stadt und Gemeinschaft. Genau das, was der »Tag des guten Lebens« fördert, zum Beispiel in den Nachbarschaften.
Ursprünglich sollte der »Tag des guten Lebens« in der Innenstadt stattfinden, doch die dortige Bezirksvertretung zögerte. Ist das noch immer ein Ziel?
Soénius: Das ist nicht so leicht zu machen. Die Zugänglichkeit muss gegeben sein, auch am Wochenende. Denken Sie an die Museen, an die Flaneure, die von außerhalb kommen. Die will ich auch hier haben.
Dos Santos: Auf der anderen Seite haben wir ja bereits zwei Tage, an denen die Innenstadt praktisch autofrei ist: Rosenmontag und Marathon. Auch beim Marathon kann man die Innenstadt anders erfahren. Man sollte den »Tag des guten Lebens« am besten in wechselnden Vierteln machen, damit die Menschen sehen, wo jeweils die Möglichkeiten der Nahmobilität liegen und wie man das in den Alltag übernehmen kann. Denn da gibt es viele relevante Fragen: In zehn Jahren werden wir einen deutlich höheren Anteil von Menschen über 70 Jahren haben, die möglichst selbstständig leben wollen. Da müssen wir die Nahmobilität und die Nahversorgung in den Stadtteilen genau unter die Lupe nehmen.
Herbertz: Völlig richtig, der Fußverkehr wird eine große Rolle spielen. Das wird bislang noch zu wenig diskutiert. Ich würde mir wünschen, dass die Stadt Köln nach dem Fahrradbeauftragten auch einen Fußverkehrsbeauftragten einsetzt.
Das Bündnis Agora Köln, das den »Tag des guten Lebens« organisiert, hat Anfang des Jahres einen regelmäßig stattfindenden Mobilitätsgipfel ins Leben gerufen und bereits ein Mobilitätskonzept für die Stadt erstellt. Wollen Sie in Zukunft vermehrt als politischer Akteur auftreten?
Brocchi: Hinter dem Tag steht ein breites Netzwerk aus Kulturakteuren, Zivilgesellschaft, Umweltbewegungen und lokaler Ökonomie. Ohne diese Bewegung hätten wir die Bezirksvertretung Ehrenfeld 2013 nicht dazu gebracht, das zu wagen. Wir waren also immer schon ein politischer Akteur, der Druck von unten aufbaut. Politik braucht auch andere Orte und Formen als Parteien und Institutionen.
Herbertz: Es geht darum, Ideen zu formulieren und auf den Markt zu bringen. Das Thema Partizipation ist wichtig, da hat der Rat der Stadt im vergangenen Dezember ja auch einen Entschluss bezüglich früherer Bürgerbeteiligung gefasst. Da kann auch das Bündnis Agora Köln ein wichtiger Baustein sein.
Brocchi: Es gibt sogar Menschen in der Verwaltung, die hinter vorgehaltener Hand sagen: Wir wünschen uns mehr Druck von außen, sonst ändert sich nichts. Wir brauchen den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Wider die Immobilität in den Institutionen.
Interview: Christian Steigels