Gesetzgewordene Stammtischparolen
Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt«, sagt Bundesinnenminister Otto Schily im ZDF-Morgenmagazin am 3. September, »wird es das modernste Zuwanderungsrecht sein, das wir in Europa haben«. In der deutschen Zuwanderungsdebatte ist die Zeit der Superlative und großen Worte angebrochen. Es kursiert gar der Begriff des Paradigmenwechsels – von einer ablehnenden zu einer akzeptierenden Migrationspolitik. Deutschland habe sich von der »politischen und normativen Festlegung«, partout kein Einwanderungsland zu sein, endgültig verabschiedet.
Das zumindest postuliert der Bericht der von Schily eingesetzten »Unabhängigen Kommission Zuwanderung« unter Vorsitz von Rita Süßmuth (Süßmuth-Bericht). Das Papier liegt seit Anfang Juli vor und sollte Empfehlungen für Schilys Gesetzentwurf ausarbeiten. Noch während der parlamentarischen Sommerpause, am 3. August, lässt der Bundesinnenminister dann die Katze aus dem Sack: Er präsentiert der Öffentlichkeit einen Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz, das das derzeit gültige Ausländergesetz ersetzen soll. »Zum ersten Mal«, verkündet Schily, »werden damit die entscheidenden Bestimmungen des Aufenthaltsrechts und des Arbeitserlaubnisrechts für Ausländer in einem Gesetz zusammengefasst«.
Arbeitsmarkt und Migration
Und damit sind wir auch schon mitten im Thema: Es geht um eine enge Verzahnung von Arbeitsmarkt und Migration. Der Gesetzentwurf sieht in erster Linie großzügige Erleichterungen für die Zuwanderung sogenannter Hochqualifizierter: Sie können als einzige eine sofortige unbefristete »Niederlassungserlaubnis« erhalten, und ihre Kinder können bis zu einem Alter von 18 Jahren nachziehen – für alle anderen Zuwanderer wird das bisherige Nachzugsalter von jetzt 16 auf dann 12 Jahre gesenkt. In zweiter Linie soll ArbeitsmigrantInnen der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtert werden. Allerdings sorgen Steuerungsinstrumente wie jährlich festzulegende Quoten und ein Auswahlverfahren im Punktesystem, das die Verwertbarkeit der ausländischen Arbeitskräfte messbar macht, für ein rasche und geschmeidige Anpassung an die jeweils aktuelle Arbeitsmarktsituation. »Flexibel und wirtschaftsfreundlich« nennt Schily den Entwurf. Dass der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) von einem »Schritt in die richtige Richtung« spricht und die Union öffentlich davor warnt, den Entwurf abzulehnen, bestätigt seine Einschätzung.
Asyl auf Zeit
Der Schily-Entwurf fasst jedoch nicht nur Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisrecht zusammen, er sortiert auch die rechtlichen Bestimmungen zur Flüchtlings- und Asylpolitik neu. Entgegen der Genfer Flüchtlingskovention soll in Zukunft z.B. kein Asyl mehr erhalten, wer »durch selbstgeschaffene (subjektive) Nachfluchtgründe eine Verfolgung im Herkunftsland auslöst«. In der Vergangenheit handelte es sich dabei v.a. um politische Betätigung der Betroffenen hier in Deutschland. Zudem soll selbst bei anerkannten AsylbewerberInnen nach drei Jahren eine obligatorische Prüfung erfolgen, ob »sich die Verhältnisse im Herkunftsland geändert haben«. Sollte das der Fall sein, besteht die Möglichkeit, die Asylanerkennung zurückzunehmen. Auch die Sozialleistungen werden drastisch eingeschränkt: Der Personenkreis, der statt Sozialhilfe nur noch Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (liegt mehr als 30 Prozent unter der Sozialhilfe) erhält, wird ausgeweitet. Gelten die verminderten Leistungen zur Zeit für die ersten drei Jahre des Aufenthalts, sollen sie jetzt zeitlich unbegrenzt wirksam sein. Desweiteren werden im Schily-Entwurf Integrationsmaßnahmen und die Sonderrechte von EU-Ausländern festgeschrieben.
MigrantInnen sortiert nach »Aufenthaltszwecken«
Das rund 250 Seiten starke Werk regelt also jegliche Art von Zuwanderung, sortiert nach »Aufenthaltszwecken« – von der Erwerbstätigkeit bis zur Asylsuche. Nur eines findet man darin nicht: den annoncierten Paradigmenwechsel hin zu einer wirklichen Akzeptanz von Migration. Denn füllt man die Worthülse mit Inhalt, hätte das zur Folge, Zuwanderung und dauerhafte Einwanderung, wie sie innerhalb der EU – und zwar unabhängig von der individuellen Motivation – bereits möglich ist, zu akzeptieren. Bereits im Kontext der Verabschiedung des ersten Ausländergesetzes der Bundesrepublik (1965) wies der Jurist Fritz Franz die damalige Bundesregierung auf die Menschenrechtserklärung hin und »erinnerte an eine liberale Tradition, die das Individuum und dessen Recht auf freie Bewegung über die Rechte der souveränen Staaten stellte«, schreibt Karen Schönwälder in einem Text über die Entstehungsgeschichte des ersten bundesdeutschen Ausländergesetzes.
Fritz Franz fand damals kein Gehör und würde auch heute keines finden. Stattdessen wird das Gesetz, sollte es in dieser oder hinreichend ähnlicher Form den Bundestag passieren, eine MigrantInnen-Hierarchie installieren. »Hochqualifizierten Ausländern« werden allerlei Lockangebote unterbreitet, während man einfachen ArbeitsmigrantInnen genau solange Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt, solange das jeweilige Unternehmen ihrer bedarf. AsylbewerberInnen und Flüchtlinge werden faktisch zu BittstellerInnen degradiert, die im Prinzip unerwünscht sind und derer man sich auf dem schnellsten Wege wieder zu entledigen gedenkt.
KritikerInnen sprechen von einem Rollback
Das ruft die GegnerInnen auf den Plan, die von des Bundesinnenministers eigener SPD-Fraktion und dem Grünen Koalitionspartner bis hin zu Kirchen, JuristInnen, Wohlfahrtsverbänden und Organisationen wie amnesty international, Pro Asyl und »kein mensch ist illegal« reichen. Setzen sie in der Detailkritik auch unterschiedliche Schwerpunkte, sind sich die KritikerInnen doch in einer grundlegenden Einschätzung einig: In wichtigen Regelungen fällt der Gesetzentwurf hinter den Status Quo zurück, in manchen liest er sich gar wie ein Rollback in die Zeit der ersten Arbeitsmigration.
Dies gelte insbesondere für die Möglichkeit, Zuwanderung wieder nach dem Rotationsmodell zu gestalten, heißt es in der Stellungnahme des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Die Anwerbepolitik der 50er und 60er Jahre würde »damit unter modernen Vorzeichen fortgesetzt, indem in erster Linie Nützlichkeitserwägungen im Vordergrund stehen«. Der Wohlfahrtsverband bezieht sich auf die Anwerbeabkommen, die die Bundesrepublik von 1955 bis 1968 aufgrund von horrendem Arbeitskräftemangel mit einer Reihe von Staaten schloss. In einigen der Abkommen wurde der Aufenthalt der ArbeitsmigrantInnen grundsätzlich auf zwei Jahre beschränkt, um Dauerbeschäftigung und Einwanderung zu verhindern. So stand es auch im Anwerbevertrag mit der Türkei, der im Oktober 1961 in Kraft trat. Im Schily-Entwurf ist nun wieder die Möglichkeit vorgesehen, den Verbleib von vornherein zeitlich zu begrenzen: »Die Aufenthaltserlaubnis kann nicht verlängert werden, wenn die zuständige Behörde dies bei der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen hat«. Damals drängte bereits im Dezember 1962 die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gegenüber dem Bundesarbeitsministerium darauf, den Rotationszwang abzuschaffen. Es war schlicht zu teuer und zu umständlich, alle zwei Jahre neue türkische ArbeiterInnen anzulernen. Die Unternehmerinteressen gaben schlussendlich den Ausschlag: die Beschränkung des Aufenthalts auf zwei Jahre entfiel ersatzlos. In welche Richtung die Unternehmerinteressen heutzutage gehen, ist in einer Pressemitteilung des BDI vom 3.8. nachzulesen. Nachdem sie Schily für die prinzipiell eingeschlagene Richtung über den Kopf gestreichelt haben, bemängeln die Industriellen: »Eindeutig mangelhaft sei es, dass deutsche Unternehmen nicht die Möglichkeit erhalten sollen, eigenverantwortlich kurzfristig benötigte Engpassarbeitsplätze mit Mitarbeitern zu besetzen« und: »Die vorgeschlagenen Verfahren zur Regelung der Zuwanderung sind noch zu bürokratisch und zu restriktiv.« Die Flexibilisierung geht dem BDI noch nicht weit genug, denn laut Schily-Entwurf sind die Arbeitsämter und deren Verwaltungsausschüsse sowie ein neu zu schaffendes »Bundesamt für Migration und Flüchtlinge« für die Vergabe von Arbeitserlaubnis und Aufenthaltstitel zuständig. Wer wann wie und für wie lange kommt, würden die Unternehmen aber gerne selbst regeln.
Sammellager heißt jetzt Ausreiseeinrichtung
Die gravierendsten Rückschritte – sprich: Verschlechterung der Lebensbedingungen – findet man jedoch im Kapitel »Humanitäre Aufnahme«, in dem es um flüchtlingspolitische Eingriffe geht. Dort wird die grundlegende Absicht kundgetan, »nunmehr zwischen Personen, die nicht zurückkehren können, und solchen, die nicht ihr Herkunftsland zurückkehren wollen« zu differenzieren. Wer nicht zurückkehren kann – »aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat« -, dem soll ein befristetes Aufenthaltsrecht gewährt werden. Wer nicht zurückkehren will, dessen Abschiebung soll »in Zukunft strikter durchgesetzt werden«. Erstens indem die »Residenzpflicht«, d.h. eine Beschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit auf den gemeldeten Aufenthaltsort, auch auf diesen Personenkreis ausgeweitet wird. Bisher fallen nur AsylbewerberInnen unter diese Regelung. Zweitens schafft der Gesetzentwurf »die Möglichkeit, die betroffenen Personen zu verpflichten, in einer Ausreiseeinrichtung zu wohnen«. In einigen Bundesländern, z.B. Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, existieren solche Sammellager bereits. Während sie zur Zeit noch einen halblegalen Anstrich haben, will Schily ihnen eine rechtliche Absicherung verschaffen – und vor allem eine Zielvorgabe: die Beschaffung von Heimreisedokumenten zu beschleunigen und »die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise fördern«. Georg Claasen vom Berliner Flüchtlingsrat weist darauf hin, dass in der Praxis die Mehrzahl der in solche Einrichtung eingewiesenen AusländerInnen die Illegalität vorziehen.
Illegale wird es in diesem Land sowieso deutlich mehr geben, wenn Schilys Entwurf Gesetz wird. Ein Grund dafür ist die geplante Abschaffung der bisherigen »Duldung«. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums leben in der BRD knapp 250.000 Geduldete. Ein unhaltbarer Zustand, der auch von Flüchtlingsorganisationen kritisiert wird, da die Duldung zwar einen vorübergehend legalen, aber rechtlich sehr unsicheren Aufenthalt darstellt. Er wird zur Zeit in erster Linie Flüchtlingen gewährt, die nicht abgeschoben werden können, da ein Abschiebehindernis besteht, die aber im Prinzip »ausreisepflichtig« sind. In Köln leben derzeit rund 3.700 Geduldete, die meisten von ihnen sind Roma, die aus dem ehemaligen jugoslawischen Staatsgebiet kommen. Da deren Fluchtgründe meist nicht als asylrelevant anerkannt werden oder sie keine Identitätspapiere vorweisen können, enden die meisten von ihnen im prekären Duldungsstatus.
Befristetes Aufenthaltsrecht per Sponsor
Sieht man die Abschaffung der Duldung im Zusammenhang mit einer anderen Schutzlücke des Schily-Entwurfs, wird eine beträchtliche Zahl von Flüchtlingen in einen rechtlosen Zustand versetzt, der nur noch die Alternativen Abschiebung oder Illegalität bereithält. Entgegen der Empfehlung des Süßmuth-Berichts, entgegen der Forderungen der Grünen- und der SPD-Bundestagsfraktion, ignoriert der Gesetzentwurf nämlich weiterhin nicht-staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung. Um beim Beispiel der Roma zu bleiben: Schikane und Verfolgung, die sie durch andere Ethnien in ihren Herkunftsländern erfahren, wird weiterhin nicht als ausreichender Grund angesehen werden, ihnen einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erteilen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband nennt das, »sich der Verantwortung für Schutzbedürftige entledigen und diese in die Illegalität treiben.«
Für derlei Schutzbedürftige ohne Aufenthaltsberechtigung hat sich das BMI jedoch etwas ganz Pfiffiges einfallen lassen: »Besonderen humanitären Interessen soll dadurch Rechnung getragen werden, dass ein befristetes Aufenthaltsrecht für Personen gewährt werden kann, wenn die damit verbundenen Kosten von international tätigen Körperschaften, wie z.B. Kirchen, übernommen werden.« Zu lange haben die Kirchen – in Köln v.a. die Antoniterkirche und die Lutherkirche – den Staat mit ihrer Gewährung von Kirchenasyl geärgert, verhinderten die Christen doch damit eine drohende Abschiebung ihrer Schützlinge. Schily greift damit einen alten Vorschlag des bayrischen Innenministers Beckstein (CSU) auf. Einig sind die beiden sich offenbar in ihrer Absicht, die KritikerInnen der rigiden deutschen Flüchtlingspolitik mundtot zu machen. Schily jedoch hat die Gelegenheit genutzt, die Privatisierung von Verantwortung und Kosten für Flüchtlinge Gesetzestext werden zu lassen. Nichts anderes meint dieses »Angebot«, das somit von einer bayrischen Stammtischparole zum seriösen Vorschlag mutiert. Die Häme, mit der Schily ihn zu verteidigen sucht, wird im folgenden Interviewausschnitt deutlich (Tagesspiegel, 6.8.):
Schily: Es gibt aber einzelne Fälle, bei denen die Kirchen oder andere humanitäre Organisationen meinen, sie könnten besser darüber urteilen, ob jemand schutzbedürftig ist oder nicht – eher aus moralischen, weniger aus rechtlichen Überlegungen.
Tagesspiegel: Die Kirchen lehnen dankend ab.
Schily: (...) Es mag sein, dass die Kirchen die Entscheidung scheuen, wem sie »Kirchenasyl« geben und wem nicht.
Tagesspiegel: Dann hätten die Kirchen den Schwarzen Peter.
Schily: Wer das nicht will, der muss auch nicht. Bitte schön.
Das Zuwanderungsgesetz:
Am 3. August legt Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) den Entwurf für ein »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern« vor. Gleichzeitig präsentiert er einen rigiden Zeitplan, der für eine breite gesellschaftliche Debatte unter Einbeziehung aller Parteien, Verbände, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen keinen Platz lässt. Nach Schilys Vorstellung soll der Entwurf bereits am 26. September das Bundeskabinett passiert haben. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren, d.h. Verabschiedung durch Bundesrat und Bundestag, will er bis Ende 2001 abschließen. In Kraft treten wird es nach bisheriger Planung allerdings erst ab Januar 2003, die Zeit dazwischen soll vor allem der Vorbereitung der Behörden und Ministerien auf die neue Gesetzeslage dienen.