Ich bin ein Panzer

Russland ist Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die meisten neuen Autoren, die dem deutschen Publikum vorgestellt werden, verdanken ihren Auftritt der Kölner Literatur-Agentin Galina Dursthoff. Uli Hufen sprach mit ihr über russischen Literaturtransfer in der Postsowjet-Ära.

Stadtrevue: Frau Dursthoff, wie wird man als Russin Literaturagentin in Deutschland?

Galina Dursthoff: Ach, als ich nach Deutschland kam, vor zwölf Jahren, da konnte ich sagen »Hitler kaputt« und »Hände hoch!« Dann habe ich acht Jahre als freie Journalistin gearbeitet, für die Deutsche Welle und den DLF. Aber irgendwann war die Luft raus. Da mein Mann bei Kiepenheuer arbeitet, hatte ich damals schon viel mit Lektoren und Verlegern zu tun und ich wurde immer wieder gefragt: Was gibt’s Interessantes in Russland? Was passiert da? Also habe ich erzählt.

Erzählen allein reicht ja selten...

Genau, man muss dran bleiben, anrufen und irgendwann auch Verträge machen. Jedenfalls habe ich irgendwann gesehen, dass der Argon-Verlag Alexandra Marininas Krimis herausbringt. Da dachte ich mir: Mein Gott, es gibt doch besseres: die Daschkowa ist einfach besser als Marinina. Na ja, und mein Mann sagte: Warum wirst du nicht Agentin? So hab ich angefangen, 2000/1. Paulina Daschkowa war meine erste Autorin.

Zum Anlass der Buchmesse erscheint nun zum ersten Mal seit Jahren eine nennenswerte Anzahl neuer russischer Autoren...

Es ist recht viel, ich allein habe 16 Autoren auf der Buchmesse. Ob das gut oder schlecht ist, ist aber schwierig zu sagen. Es kann natürlich sein, dass danach eine große Welle beginnt. Darauf hoffe ich. Wenn nicht, war es einfach eine phantastische Möglichkeit, neue Autoren zu präsentieren. Ich vertrete ja neben bekannten Namen wie Sorokin oder Mamlejew auch viele junge Autoren und Debutanten: Ilja Stogoff, Michail Jelisarow, Michail Kononow, Oleg Postnow.

Mein Eindruck ist, dass es in Deutschland zwar ein Grundinteresse an russischer Literatur gibt, aber ein geringes Wissen über aktuelle Entwicklungen. Entspricht das ihren Erfahrungen? Gibt es bei den Verlagen noch Spezialisten, die sich professionell mit russischer Literatur befassen?

Es gibt Spezialisten – bei Suhrkamp, bei DuMont, beim AufbauVerlag. Natürlich – es gab den Verlag Volk und Welt, der in der DDR internationale Literatur veröffentlichte, wo sehr viele Spezialisten gearbeitet haben. Aber das ist nicht vergleichbar, das war noch von einer ganz anderen Zeit geprägt.

Eben: Einerseits ist Russland Gastland auf der Buchmesse, andererseits wird Volk und Welt geschlossen. Außerdem ist, wie man hörte, das komplette Archiv auf die Müllkippe gewandert und damit 40 Jahre Wissen, nicht nur über die russische Literatur.

Ja. Das Komische ist, dass die Russen selbst bei den Verlagen, die Experten haben, als schwierig gelten.

Schwer zu lesen oder schwer zu verkaufen?

Zu verkaufen, aber auch oft zu lesen. Die Verlage suchen alle nach Autoren, die Stories erzählen können. Einfach gut erzählen. Die Russen sind ja manchmal schon schwierig. Viel Philosophie. Interessant ist aber auch folgendes: Vor ein paar Jahren habe ich mal mit Marcel Reich-Ranicki gesprochen und ihn gefragt, welche russischen Autoren er gelesen hat: Dostojewski, Tolstoj, Tschechow. Bei Bulgakow ist dann Schluss. Das war natürlich sehr traurig, vor allem deswegen, weil gerade in den 90er Jahren viele interessante Autoren herausgekommen sind.

Dabei haben die Verlage ja noch in der Perestroika viel veröffentlicht.

Ja, aber das war oft reiner Zufall. Es war modisch, Russen raus zu bringen, genau wie Matrjoschkas, Gorbatschow und Wodka. Dann hat man eben gekauft, was angeboten wurde. Meiner Meinung nach sind da viele Autoren erschienen, die sich einfach nicht gut verkaufen konnten.

Warum soll man überhaupt russische Bücher lesen? Was können russische Autoren, das deutsche oder amerikanische nicht können?

Na, was die russischen Frauenkrimis angeht – viele Leute sind überzeugt, dass die besser sind als die Konkurrenz.

Und die so genannte Schöne Literatur? Was ist da in den letzten Jahren passiert, das uns hier interessieren sollte, welche Erfahrungen werden da verhandelt?

Russische Autoren haben wie das ganze Land in den letzten Jahren unglaublich intensive Erfahrungen gemacht. Mich interessiert ja besonders die neue Generation um die 30: Die waren 15, als die Perestroika kam, 20, als Jelzin Gorbatschow raus warf und der Kapitalismus in Russland begann, und 25, als der erste Tschetschenienkrieg begann. Das sind Erfahrungen, für die westliche Länder 40 oder 50 Jahre Zeit hatten. Alles ging super schnell. Und die jungen Autoren verstehen es, diese Erfahrungen in einer modernen Sprache zu verhandeln. Sie haben einen Weg gefunden zwischen dem bürokratischen Jargon des sowjetischen Russisch und der total überhöhten Literatursprache.

Die Auflagen in Russland sind ja meist sehr niedrig, selbst bekannte Autoren liegen selten höher als 5.000

Ja, und davon kann man natürlich nicht leben. Obwohl die russischen Kritiker schon sehr lange auf eine Art Mainstream hoffen – das gibt es nicht und es ist gut so. Die Autoren leben oft vom Journalismus. Oder es läuft ganz anders: da gibt es z.B. Dmitrij Lipskerow, der hat mir gesagt: »Ach, wissen Sie, ich habe eigentlich kein Interesse daran, meine Bücher im Westen zu veröffentlichen.« Ich: »Wieso, brauchen sie kein Geld?« Er: »Nein!« Der hat eine Restaurantkette.

Der Status der Schriftsteller hat sich verändert.

Früher waren es ja »Lehrer«, die gesagt haben, wo es langgeht im Lande. Heute ist das nicht mehr so. Darum schreit die Literaturkritik seit Jahren, die russische Literatur sei tot. Vor kurzem hat auch Viktor Jerofejew gesagt: »Der Spiegel der russischen Literatur ist zerbrochen.« Ich hab gesagt: Ja klar, der sieht wahrscheinlich sein eigenes Gesicht nicht mehr darin! Das tut mir natürlich furchtbar leid, aber irgendwann ist man vielleicht einfach zu alt und weiß nicht mehr, was man sagen soll. Das ist jedenfalls Quatsch. Die sitzen in irgendwelchen verstaubten Ecken und sie hassen alles neue, z.B. die Literatur, die aus dem Internet kommt. In Russland erscheinen viele Bücher im Internet. Und die Verleger sagen ganz offen: das hilft. Der Verlag Ad Marginem hat Sergej Bolmats Buch »Klick« als erstes ins Netz gestellt. Oleg Postnow kommt auch aus dem Netz, hat dann einen Verlag gefunden und erscheint jetzt bei Rowohlt Berlin. Das andere ist, dass russische Kritiker bis heute glauben, dass ein gutes Buch kein Bestseller werden kann. Das ist total falsch, aber so wird bis heute diskutiert.

Wird es also den großen Boom geben, jetzt im Herbst?

Einen Boom, ich weiß nicht. Das Problem ist, dass viele Verlage nichts für ihre Autoren tun. Die Leute in den Presseabteilungen sind nicht besonders interessiert an ihren russischen Autoren. Die sagen sich: OK, wir haben nicht viel Geld für den Autor ausgeben, das muss einfach von selbst laufen. Drömer tut nichts für Ilja Stogoff, Rowohlt Berlin tut nichts für Postnow, die haben sie noch nicht mal zur Buchmesse eingeladen. Aber ich bin ein Panzer, ein absoluter Panzer, der versucht, die russische Literatur nach vorne zu bringen. Wenn ich nicht sicher wäre, dass es gelingen kann, würde ich die Arbeit nicht machen.

Galina Dursthoff (Hg.): Russland – 21 neue Erzähler. dtv, München 2003, 256 S., 9,50 Eur.
Bücher 2003:
Polina Daschkowa: Club Kalaschnikow. Aufbau Verlag, Berlin 2003, 445 S., 8,95 Eur.
Dies.: Russische Orchidee. Aufbau Verlag, Berlin 2003, 435 S., 20 Eur.
Michail Jelisarow: Die Nägel. Reclam, Leipzig 2003, 128 S., 14,90 Eur.
Sergej Bolmat: In der Luft. C.H. Beck, ca. 400 S., 24,90 Eur.
Michail Kononow: Die nackte Pionierin. Kunstmann, München 2003, 280 S., 21,90 Eur.
Alexandra Marinina: Mit tödlichen Folgen. Anastasijas siebter Fall, Fischer TB, Frankfurt 2003, ca. 8 Eur.
Oleg Postnow: Angst. Rowohlt Berlin, Berlin 2003, 256 S., 19,90 Eur.
Ilja Strogoff: Machos weinen nicht. Droemer/
Knaur, München 2003, 380 S., 19,90 Eur.
Klassiker
Zehn Bände Weltliteratur aus dem letzten Jahrhundert – viele dieser Bücher sind leider nur noch antiquarisch zu bekommen:
Andrej Platonow: Glückliche Moskwa, Verlag Volk & Welt
Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki, Piper Verlag
Eduard Limonow: Selbstbildnis des Banditen als junger Mann, Selinka Verlag
Warlam Schalamow: Geschichten aus Kolyma, Ullstein TB
Isaak Babel: Geschichten aus Odessa, dtv
Boris Pilnjak: Das nackte Jahr, Suhrkamp
Daniil Charms: Fälle. Prosa, Szenen, Dialoge, Friedenauer Presse
Sascha Sokolow: Die Schule der Dummen, Suhrkamp
M. Agejew: Roman mit Kokain, Rowohlt
Nikolaj Ostrowskij: Wie der Stahl gehärtet wurde, Verlag Neues Leben
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