Flucht nach vorne
Wenn es um die Zahl aktueller Filme geht, denen Kuba als Kulisse dient, könnte man meinen, das dortige Kino erlebe zurzeit einen kleinen Boom. Nur: Viele der Streifen, die zu sehen sind, stammen von Europäern oder Nordamerikanern, die die Insel nur aus der Touristenperspektive kennen. Entsprechend beschränkt sich das Kubabild auf deutschen Kinoleinwänden in den letzten Jahren vorwiegend auf museale Romantik: fossile Cadillacs, brüchige Balkone an der Uferpromenade von Havanna, greise Musiker, deren Son die Luft mit träger Sinnlichkeit füllt. Nach den Erfolgen von Wim Wenders’ verlängertem Videoclip »Buena Vista Social Club« und der Dokumentation »Lágrimas Negras« der Niederländerin Sonia Herman Dolz über die Vieja Trova Santiaguera schien es zeitweise auszureichen, auf die Insel zu jetten, Leuten ein Mikro unter die Nase zu halten, das Resultat »Havanna mi amor« oder so ähnlich zu nennen, und schon rennt die Multi-Kulti-Szene begeistert in die Kinos.
Glücklicherweise gelangte im Kielwasser des Kuba-Hypes auch die eine oder andere kubanische Produktion auf die hiesigen Leinwände. So waren letztes Jahr »La vida es silbar« (»Das Leben, ein Pfeifen«) von Fernando Pérez und »Lista de espera« (»Kubanisch reisen«) von Juan Carlos Tabío zu sehen. Die Filme »Tropicanita« (»Kleines Tropikana«) und »Hacerse el sueco« (»Der Cuba Coup«), die der Regisseur Daniel Díaz Torres und der Drehbuchautor Eduardo del Llano gemeinsam realisierten, profitierten von der Publicity, die ein deutscher Koproduzent und der deutsche Hauptdarsteller Peter Lohmeyer brachten.
Über dieses aktuelle Panorama hinaus gibt es nun erstmals seit längerer Zeit wieder die Möglichkeit, in Köln kubanische Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme der letzten 40 Jahre zu sehen. In Zusammenarbeit mit der Kulturinitiative Kuba gedreht zeigt das Off-Brodway eine Auswahl von 25 Werken. Von den Produktionen neueren Datums ist nur »Das Leben, ein Pfeifen« mit von der Partie sowie Aturo Sottos »Amor vertical« (»Liebe in der Vertikalen«, 1997), der bisher kaum in Deutschland zu sehen war. Dafür sind einige Klassiker im Programm, darunter allein drei Filme, die sich um das Aufbegehren von Frauen drehen: »Lucía« (1967) von Humberto Solás schlägt den historischen Bogen der Befreiungs- und Emanzipationskämpfe vom 19. Jahrhundert bis in die Jahre nach der Revolution. In »Hasta cierto punto« (»Bis zu einem gewissen Punkt«, 1983) von Tomás Gutiérrez Alea bekommt es ein Regisseur bei den Recherchen zu einem Dokumentarfilm mit einer selbstbewussten Hafenarbeiterin und seinem eigenen »inneren Macho« zu tun. In »De cierta manera« (»In gewisser Hinsicht«, 1974) lieben und streiten sich eine junge schwarze Lehrerin und ihr grobschlächtiger Verlobter. Die Tatsache, dass dieses Werk der früh verstorbenen Sara Gómez bis heute der einzige kubanische Spielfilm geblieben ist, bei dem eine Frau Regie führte, wirft ein Schlaglicht auf Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Kino des Landes.
Eröffnet werden die Filmtage mit einem Film, der 1991 eine der polemischsten Debatten in der Geschichte der kubanischen Kulturpolitik entfesselte: »Alícia en el pueblo de Maravillas« (»Alícia am Ort der Wunder«). Daniel Díaz Torres’ und Eduardo del Llanos Groteske über einen fiktiven Ort auf Kuba, an den unzuverlässige Genossen und Genossinnen verbannt werden, wurde auf internationalen Festivals wie der Berlinale gefeiert, verschwand aber auf Kuba jahrelang im Giftschrank. Erst ab Mitte der 90er wurde er nach und nach freigegeben. Es gibt wohl nur wenige Filme, in die so viel verzerrend hineininterpretiert wurde. So vermeinten pikanterweise sowohl Vertreter des kubanischen Staatsapparates als auch Hardliner im Exil in der Figur eines autoritären Sanatoriumsdirektors Züge von Fidel Castro zu erkennen. Letztendlich war der »Fall Alícia« jedoch für die kubanischen Kulturbehörden eine solche Blamage, dass es seitdem keine weiteren Versuche offener Zensur gab. So können auch weiterhin innerhalb des staatlichen Institutes ICAIC, das als recht liberal gilt, Filme mit deutlich kritischem Unterton gedreht werden.
Zurzeit ist es in erster Linie die wirtschaftliche Dauermisere, die wie ein bleierner Hemmschuh über der kubanischen Filmszene liegt. Seit Anfang der 90er können nur ein bis zwei Spielfilme pro Jahr in Eigenregie produziert werden. Weil das Material nur für einen Film reichte, taten sich 1994 drei Regisseure für einen Episodenfilm über das Überleben in den Zeiten der »periodo especial« zusammen. In Daniel Díaz Torres’ »Quiereme y verás« (»Liebe mich, und du wirst schon sehen«) hängen ergraute Ganoven auf Parkbänken den Zeiten hinterher, als sich Bankraub auf Kuba noch lohnte. In Rolandos Díaz’ schriller Tragikomödie »Melodrama« dreht eine Frau im Angesicht des Todes noch einmal richtig auf. Dagegen vegetiert in der Episode »Madagascar« von Fernando Pérez eine Unidozentin in einem Kokon aus düsteren Gedanken dahin, während es ihre Tochter in eine eskapistische Fantasiewelt treibt.
Der Film »Das Leben, ein Pfeifen«, den Pérez vier Jahre später dreht, beginnt genau in diesem Niemandsland aus Apathie und unterdrückter Wut. Doch belässt er es diesmal nicht beim niederschmetternden Status quo. Der Grundton ist spielerischer, experimenteller. In Havanna grassiert ein dubioses Phänomen. Leute sinken beim Klang bestimmter Begriffe in Ohnmacht: zum Beispiel »Freiheit«. Oder »Doppelmoral«. Der Altenpflegerin Julia wird immer beim Wort »Sex« schummerig. In »Das Leben, ein Pfeifen« sind sie kaum zu trennen: die Sehnsucht nach der Wahrheit und die Panik davor, die Suche nach dem Glück und die Furcht davor. Frei nach dem John-Lennon-Zitat »Das Leben geht vorbei, während du damit beschäftigt bist, andere Dinge zu erledigen« laufen und taumeln die Hauptfiguren durch Havanna. Wenn sie glauben, unmittelbar vor dem Ziel zu sein, ist das Objekt der Begierde gerade schon wieder um die nächste Ecke gebogen. Auch Perez’ vor Symbolen übersprudelnde Bildsprache entzieht sich immer in letzter Sekunde simplen Deutungszugriffen. Das gilt auch für die politische Metaphorik, die – trotz zahlloser Anspielungen und Seitenhiebe auf die Situation in Kuba – immer wieder die Kurve ins Philosophische kriegt.
Bei den meisten kubanischen Filmen der 90er steht weniger der große gesellschaftliche Entwurf, sondern die Sehnsucht nach dem persönlichen Glück im Vordergrund. Einer der wenigen jungen Regisseure, die in den letzten Jahren einen abendfüllenden Spielfilm realisieren konnten, ist der 1967 geborene Arturo Sotto. In »Amor vertical« finden Estela und Ernesto, ein junges Paar aus Havanna, keinen Raum, um sich ungestört zu lieben. Dies alles hindert Estela, die Architektur studiert, nicht daran, hemmungslos in Fantasien zu schwelgen. Ständig erfindet sie die abgedrehtesten Modelle. Zum Beispiel gläserne Fahrstühle für Liebespaare, die an der Außenwand des Leuchtturms von Havanna auf- und abgleiten. Bei den Baubehörden prallen Estelas Entwürfe gegen Gummiwände. Die Szenen, wo sie in einem Großraumbüro abgefertigt wird, wimmeln vor Anspielungen an Tomás Gutiérrez Aleas satirischen Klassiker »Tod eines Bürokraten« von 1966, der ebenfalls im Rahmen von »Kuba gedreht« zu sehen ist.
»Amor vertical« kontrastiert Gesellschaftssatire mit hemmungsloser Romantik. Trotz aller Ausbruchsversuche landen die Liebenden schließlich wieder mitten in Havanna. Auch die Tatsache, dass Pérez für das Finale von »Das Leben, ein Pfeifen« die Plaza de la Revolución wählt, wo seit 40 Jahren die traditionellen Jubelfeiern stattfinden, deutet eine andere Flucht nach vorne an als die nach »Madagascar« oder gar Miami. Auf die Frage, welches Genre er wählen würde, um das Filmemachen auf Kuba zu beschreiben, meint Daniel Díaz Torres: »Auf jeden Fall eine Tragikomödie – eine bitter-sweet comedy. Ein Drama würde ich mir selbst nicht abnehmen.«
Kuba gedreht findet vom 18.-24.10. im Off Broadway statt. Alle Termine im Tageskalender.
Bettina Bremme ist Autorin des kürzlich erschienenen Buches »MOVIE-mientos. Der lateinamerikanische Film: Streiflichter von unterwegs« (Schmetterling Verlag Stuttgart, 2000, 314 S., 49,80 DM). Sie nimmt am 22.10. um 19 Uhr zusammen mit Juan Carlos Alom und Eduardo del Llano an einer Diskussion über kubanisches Kino in der Kunsthochschule für Medien teil. Bei dieser Gelegenheit werden auch Filme gezeigt, die im Rahmen des Austauschprogramms zwischen der KHM und der auf Kuba gelegenen internationalen »Filmhochschule der Drei Welten« (EICTV) entstanden sind.