»Schöne Plastiktüten sind <br>in Deutschland undenkbar«
StadtRevue: Sie sammeln Plastiktüten. Mittlerweile haben Sie 150.000 Stück. Werden Sie manchmal für verrückt gehalten?
Heinz Schmidt-Bachem: Absolut, ja! Es wirkt immer noch irgendwie schrullig, zumindest ausgefallen. Spannend finde ich allerdings, dass mich viele Leute anrufen, die auf mein Verständnis hoffen und mir quasi hinter vorgehaltener Hand gestehen, dass sie auch sammeln.
Aber warum ausgerechnet Plastiktüten?
Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert und habe das auch studiert, aber das ist nicht der eigentliche Grund. Ich komme aus ganz normalen, kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Alltag der allermeisten Familien ist nicht dokumentiert worden. Für mich ist die Plastiktüte ein Zeitdokument dieses Alltags.
Was ist für Sie das Besondere daran?
An Plastiktüten finde ich überhaupt nichts Besonderes. Ich bin eigentlich gar kein Sammler, ich hab noch nie im Leben irgendetwas gesammelt. (lacht) Ich kann das auch alles wieder abgeben. Für mich ist das eine Dokumentation, ein Archiv. Aber ein bisschen spielt da auch rein, dass ich der Kriegsgeneration angehöre. Die hat ewigen Mangel erlebt – in jeder Beziehung. Auf einmal gab es dann diese Tragetaschen – das war wie ein Sterntaler-Regen. Man musste nur die Hände aufhalten.
Haben Sie Lieblingsplastiktüten?
Das sind Tüten aus den 70er Jahren. Da gab es unglaublich grelle, schrille Tragetaschen in Pop-Art-Adaption. Die Tüte von Aldi finde ich relativ gelungen. Ich habe aber zu meinem Schrecken festgestellt, dass das Design verändert wurde. Wenn man sich die Alditüte einmal unbefangen anschaut, dann fallen einem Namen aus der Kunstgeschichte ein, wie Josef Albers, Op-Art, Russische Avantgarde. Die ältere Alditasche könnte in jedem Museum zwischen San Francisco und Tokio ausgestellt werden.
Wie ist Ihre riesige Sammlung organisiert – gibt es eine Systematik?
Nur in meinem Kopf. Ich katalogisiere meine Sammlung nicht im Computer wie manche andere Sammler das tun. Ich will eine Tragetasche sinnlich in der Hand haben. Bei jeder Plastiktüte, die ich bekomme, schaue ich mir als Erstes die Machart an. Das ist das Spannendste, denn die Tüten wurden industriegeschichtlich bisher nie sortiert. Ich kategorisiere dann zum Beispiel nach Tütentypen: Reiterbandtragetaschen aus den 70er Jahren befinden sich etwa in einer Kiste.
Sie verstehen sich nicht als Sammler, aber Ihre Beschäftigung mit Plastiktüten hat doch etwas Leidenschaftliches...
Für mich besteht die Leidenschaft darin, Wissen über Plastiktüten zu sammeln. Darüber kommt man in ganz andere Wissensbereiche. Spannend war beispielsweise herauszufinden, seit wann und wo Plastiktüten hergestellt werden. Das ist wie ein Besuch auf einer Schatzinsel, von der Sie keine Landkarte haben. Sie machen jeden Tag neue Entdeckungen.
Was haben Sie denn auf Ihrer Schatzinsel schon entdeckt?
Früher war es völlig undenkbar, dass etwas im Haushalt weggeworfen worden wäre. Das änderte sich mit der Tüte. Vor 50, 60 Jahren wurde jeden Tag in der unmittelbaren Nachbarschaft eingekauft. Bei jedem Einkauf wurde alles eingetütet. Jeden Tag kamen so mindestens drei oder vier Tüten ins Haus. So kam es erstmals dazu, dass man etwas vernichtet hat im Haushalt, statt es aufzuheben und weiter zu verwenden. Aus dem Versorgungsproblem wurde allmählich ein Entsorgungsproblem. Diese spannende Entwicklungslinie hat sich mir über die Geschichte der Tüten vermittelt.
Was sind die wichtigsten Etappen in der 50-jährigen Plastiktütengeschichte?
1953 gab es zunächst Plastikbeutel. Das waren noch keine richtigen Tüten. Im Laufe der 50er Jahre wurden Griffe angebracht, und es wurde viel experimentiert in kleinen Garagenbetrieben. Die Beutel wurden alle noch Stück für Stück von Hand geschweißt. Das erste Patent wurde 1960 angemeldet, 1961 wurden die ersten serienmäßig hergestellten Plastiktüten in der Lebensmittelabteilung des Horten-Kaufhauses in Neuss ausgegeben. Das waren die so genannten Hemdchen-Tragetaschen, die aussehen wie Unterhemden. Das ist heute weltweit der am meisten vertretene Typ von Plastiktüte. In Deutschland hat sich dieser Typ aber nicht so richtig durchsetzen können. 1965 gab es die so genannte Reiterbandtragetasche, die in Millionenauflagen herauskam und als die erste richtige Tragetasche gilt. Damit war das Plastiktütenzeitalter endgültig begründet. Die nächste Plastiktütengeneration entstand 1975: die so genannte DKT, die Doppelkrafttragetasche, die bis heute benutzt wird. Ein faszinierendes Stück, wenn man sich vorstellt, dass ein kleines Stückchen Plastik zur Verstärkung im Griffbereich zusätzlich eingeschweißt wird und die Tüte dadurch viel belastbarer wird.
Sie sammeln Plastiktüten als Zeitdokumente des Alltags. Wie haben die Tüten denn unseren Alltag verändert?
Mit der Reiterbandtragetasche hatten wir endgültig die Nachkriegszeit überwunden. Die Plastiktüte ist eine Reaktion auf das Konsumverhalten. Sie hätte sich niemals ohne die Einführung der Selbstbedienung durchsetzen können. Nach dem Wirtschaftswunder hatten wir uns satt gegessen. Nun begann die Überflussgesellschaft. Wir konnten kaufen, was das Herz begehrte. In den Supermärkten wurde alles angeboten. Und die Einkäufe mussten abtransportiert werden. Die Verkaufsmengen wurden Anfang der 70er Jahre immer größer, die Warenhäuser und Supermärkte wollten einen schnelleren und größeren Umsatz erzielen. Daraufhin entwickelte die Industrie die Doppelkrafttragetasche. Man hatte folgenden Effekt kalkuliert: Wenn die Leute diese Tasche angeboten bekommen, packen sie auch mehr in den Wagen, weil sie die Einkäufe abtransportieren können. Außerdem gewann das Verkaufspersonal mehr Zeit, da der Einpackvorgang durch die größere Tütenöffnung schneller wurde. Deutschland wusste vor lauter Geld und Dollerei nicht mehr, wohin – kaufen, kaufen, kaufen.
In den 70er Jahren gab es ja eine regelrechte Plastiktütenschwemme. Zur selben Zeit entwickelte sich aber auch die Umweltbewegung und der Slogan »Jute statt Plastik«.
Alles, was mit Kunststoff zu tun hatte, war absolut verpönt. Die Plastiktüte bot sich als Feindbild geradezu an. Der Weltuntergang war klar und nur noch eine Frage der Zeit. Die Ursache für diesen Weltuntergang war auch klar, nämlich die Plastiktüte. Diese Hysterie ging damals so weit, dass in ganz Italien Plastiktüten verboten werden sollten. In Deutschland hatte die Insel Amrum schon ein Plastiktütenverbot ausgesprochen. Hannover war drauf und dran, Plastiktüten zu verbieten. Auf dem Höhepunkt der Hysterie wurden als Alternative Jute- oder Baumwollbeutel angeboten. Was man bei den Alternativen völlig übersah, war, dass sie auf DDT-verseuchten Feldern geerntet, von Kindern in irgendwelchen Drittweltländern genäht und mit hochgiftigen Farben eingefärbt wurden. Für den seefesten Transport wurden Fäulnis verhindernde Gifte eingesetzt, so dass man diese Container kaum ohne Gasmaske aufmachen konnte. Aber das war die umweltfreundliche Alternative. Meiner Ansicht nach hat die Plastiktüte aber weniger auf Grund der Kritik aus der Umweltbewegung Schaden genommen. Vielmehr waren wir in Deutschland mit unserem Kleinbürger-Verständnis von Ordnung und Sauberkeit völlig überfordert damit, dass die Umgebung mit Plastiktüten versaut war.
Die Plastiktüte hat aber generell ein schlechtes Image in Deutschland – mit manchen Tüten möchte man gar nicht erst gesehen werden. Woran liegt das?
Das liegt einfach an der Gestaltung, ganz klar. Die deutschen Warenhäuser waren immer mit dem Image des Billigen Jakobs verbunden. Sie hätten mit einer guten Gestaltung ihrer Plastiktragetaschen ein anderes Image aufbauen können. Schöne Plastiktaschen sind in Deutschland undenkbar. Anders in der Schweiz: Da gibt es traumhafte Tragetaschen. Dort machen Künstler Tragetaschen. Das sind Leute, die von San Francisco bis Wladiwostok in allen Museen dieser Welt für Moderne Kunst vertreten sind. Ich kenne nur einen einzigen deutschen Künstler, den Kölner C. O. Päffgen, der einen Auftrag aus der Schweiz bekommen hat, eine Tragetasche zu machen. Ein anderer Künstler, den man im Zusammenhang mit Plastiktragetaschen erwähnen muss, ist Joseph Beuys, der eine 10.000er-Auflage herausgebracht hat, die er im Wesentlichen auf der Hohen Straße in Köln verteilte. Aber ihm ging es um eine politische Botschaft.
Sind solche Sammlerstücke überhaupt noch zu bekommen?
Der Schweizer Lebensmittelkonzern Migros hat bis in die 90er Jahre eine Künstleredition herausgegeben. Ich bin zu spät drauf gekommen, dass es eine ganze Edition gibt. Mir fehlten die Nummer eins, zwei und drei – die wollte ich unbedingt haben. Dafür hab ich alles in Bewegung gesetzt. Ich habe die Handelsabteilung der Deutschen Botschaft eingeschaltet, die sollten sich darum kümmern. Aber das klappte nicht. Daraufhin hab ich in der Migros-Zentrale angerufen, die hatten keine mehr. Ich habe aber nochmal angerufen und gesagt: »Wenn Sie gleich einen Knall hören, dann müssen Sie sich nicht erschrecken, ich hab schon die Pistole an die Schläfe gesetzt, entweder gibt’s die Nummern eins, zwei und drei jetzt noch, oder Sie haben ein Menschenleben auf dem Gewissen«. Die haben die Tüten dann tatsächlich geschickt. Die Firmenleitung hatte noch je zwei Exemplare und hat dann eins davon aus dem Banktresor rausgeholt. Das lief prima; wir hatten danach ein gutes Verhältnis.
Gibt es irgendeine Tüte, die Sie unbedingt noch haben wollen?
Ich wüsste keine. Wenn ich die Joseph-Beuys-Tragetasche nicht hätte – aber die habe ich ja.