Litfaßsäulen des Widerstands
Jean Jülich erzählt seine Geschichte, als wäre sie die normalste der Welt. Im karierten Hemd sitzt er am Wohnzimmertisch, entspannt und gut gelaunt. 74 Jahre ist er alt. Das sieht man ihm nicht an – obwohl seine Lebensgeschichten für doppelt soviel Jahre reichen würden.
Nach dem Krieg war Jean Jülich Kölns jüngster Gewerbetreibender, mit eigenem Zeitungsbüdchen in Deutz. Er hat die Akrobatik in die Kölner Funkemariechen-Tänze eingeführt. Seine Kneipe, das »Blomekörvge« im Severinsviertel, war jahrelang eine Kölner Institution. Er leitete die erste Karnevalssitzung in der Kölner Synagoge nach dem Krieg – als Nichtjude. Er ist der Gründer von Europas kleinster Karnevalsgesellschaft (alle Ämter: Jean Jülich).
Und er saß monatelang in Gestapo-Haft. Wurde verhört, gefoltert, verhungerte fast.
Lange Haare, karierte Hemden
Jean Jülich war Edelweißpirat. Mit dreizehn Jahren stieß er auf die Jungs und Mädchen, die sich jeden Abend in Sülz auf dem Manderscheider Platz trafen – und die so anders waren als die Hitlerjugend. Lange Haare trugen sie, karierte Hemden und Halstücher, und sangen: »Ja, wo die Fahrtenmesser blitzen und die Hitlerjungen flitzen und die Edelweißpiraten hintendrein / was kann das Leben uns denn schon geben, wir wollen frei von Hitler sein.« Das war 1942.
»Man musste sich in eine Reihe stellen und wurde angeschissen, dieser Kommando-Ton galt damals im Jungvolk. Mir gefiel das nicht«, sagt Jean Jülich heute, 61 Jahre später. »Ich mag nicht stramm stehen vor Leuten, vor denen ich keine Hochachtung habe«. Jülich lebte damals bei seinen Großeltern in Sülz. Jülichs Vater saß im Zuchthaus, als Kommunist war er schon 1932 in den Untergrund gegangen, seine Mutter musste hart arbeiten für ihren Lebensunterhalt und konnte sich nicht um ihn kümmern. Noch heute weiß Jülich, wie viel Rente der Großvater bekam, und was ein Ei kostete: zwei bis drei Pfennig. Wer mit den Pfennigen rechnen musste, behält solche Zahlen.
Widerstand gegen das Regime
Die Edelweißpiraten waren eine Jugendbewegung, eine Protestbewegung. An den Wochenenden fuhren sie ins Siebengebirge, manchmal trafen sich 150 Jungen und Mädchen aus Köln und der Umgebung. Mit Politik im engen Sinn hatte das wenig zu tun – mit Widerstand viel, sagt Jülich: »Ich hab’ damals den Boxkampf Joe Louis gegen Max Schmeling im Radio gehört: ›Unser Max, der greift jetzt an, und der Neger geht zu Boden‹ – der hatte keinen Namen, der Joe Louis, das war der Neger. Und in einer solchen Zeit singen diese Edelweißpiraten romantische Fahrtenlieder, die manchmal richtig multikulti waren – und nicht: ›Die Fahne flattert uns voran, ja die Fahne ist mehr als der Tod‹ und so einen Driss – ja wer will denn so was singen?«
Sehr viele wollten so etwas singen, und so wurden die jugendlichen Edelweißpiraten mit ihren anderen Liedern immer mehr zu Regime-Gegnern – auch wenn ihr Widerstand zunächst spontan blieb und vor allem eins war: Protest. Jean Jülich und seine Freunde warfen dem Direktor ihrer Schule, einem überzeugten Nazi, die Fensterscheiben ein. Eines Nachts verketteten sie ein Zeitungsbüdchen, an dem man NS-Propagandamaterial aufgedrückt bekam, mit einer Straßenbahn und ließen es über den Gehweg ziehen.
Gestapohaft
In Ehrenfeld bildete sich zu der Zeit eine andere Gruppe von Edelweißpiraten um Hans Steinbrück, einen ehemaligen Häftling des KZ-Außenlagers Köln-Messe, der zu einem Bombenräumkommando eingeteilt worden war und dabei hatte fliehen können. Gemeinsam mit Deserteuren und Zwangsarbeitern bildeten Hans Steinbrück und seine Freundin Cilly Servé eine Widerstandsgruppe. Sie versteckten sich in den zerbombten Häusern zwischen Venloer Straße und Schönsteinstraße. Jean Jülich lernte einen der Ehrenfelder Edelweißpiraten aus der Gruppe um Hans Steinbrück kennen und freundete sich mit ihm an: Barthel Schink.
Später, als er im Gestapo-Gefängnis in der Abtei Brauweiler saß, erfuhr Jean Jülich, dass Barthel Schink von den Gestapo-Beamten solange verhört, geschlagen und gefoltert worden war, bis er zusammenbrach und die Namen anderer Edelweißpiraten nannte – auch den Namen Jean Jülich. Barthel Schink hat es ihm selbst erzählt, eines Abends, als die Gestapo-Beamten das Gefängnis schon verlassen hatten und die Insassen sich von Zelle zu Zelle unterhalten konnten. 16 Jahre war Barthel Schink alt, Jean Jülich 15.
Vier Monate saß Jean Jülich in der Zelle. Als im Februar 1945 die Amerikaner näher rückten, wurden die Häftlinge auf Lastwagen Richtung Osten gefahren, erst nach Siegburg, dann ins Hessische. Jülich erzählt ruhig und sachlich über die Qualen der Gestapohaft, nur seine Stimme wird immer leiser. »Das war so schlimm«. Als Ende März 1945 endlich die amerikanischen Panzer vor seinem Gefängnis standen, waren viele andere Häftlinge an Folterungen oder Krankheiten gestorben. Hans Steinbrück, Jülichs Freund Barthel Schink und elf weitere Menschen hatte die Gestapo schon am 10. November 1944 in Köln-Ehrenfeld öffentlich erhängt.
»Man dachte nicht an diese Zeit«
Nach der Befreiung schlug sich Jülich von Hessen nach Köln durch, arbeitete bei einem Bauern im Bergischen, klaute Fahrräder, um sie gegen Kartoffeln einzutauschen. Er pachtete den Kiosk vor dem Deutzer Bahnhof, holte morgens um fünf die Zeitungen ab, verkaufte bis abends um neun. Das »Dritte Reich« kam in seinem Alltag nicht vor. »Man dachte an alles Mögliche, nur nicht an diese Zeit«, sagt Jülich. Wahrscheinlich waren seine Mitbürger froh, dass er nicht so genau nachfragte.
Jülich wurde Karnevalist, gründete die Tanzgruppe »Winzerinnen und Winzer vun d’r Bottmüll«, die wegen ihres neuen artistischen Stils schnell berühmt wurde. Er wurde Präsident der Karnevalsgesellschaft »Alt-Severin« und schon mit 34 Jahren in den Vorstand des Festkomitees gewählt – »da kam man sonst erst nach dem dritten Schlaganfall rein«. Als der Zeitungs- und Zeitschriftenhandel nicht mehr lief, etablierte Jülich mehrere gut gehende Kneipen.
Barthel Schink - immer noch ein Krimineller?
Von den Edelweißpiraten war weiter keine Rede. Weder als Karnevalist noch als Kneipier, sagt Jülich, sei er in all den Jahren darauf angesprochen worden. Das änderte sich erst durch einen »Monitor«-Bericht am 23. Mai 1978, der anprangerte, dass der von den Nazis ermordete Barthel Schink in den Gerichtsakten immer noch als Krimineller geführt wurde.
In Ehrenfeld bildete sich eine Bürgerinitiative. »Da bin ich direkt dabei gewesen und hab mitgemacht«, sagt Jülich. Eine Kontroverse entbrannte. Das Kölner Theater spielte ein Stück über die Edelweißpiraten, die Bläck Fööss sangen ein Lied über sie. 1984 wurden Jean Jülich, Barthel Schink und andere Edelweißpiraten vom Staat Israel als »Gerechte unter den Völkern« geehrt. Jetzt reagierte auch das Land Nordrhein-Westfalen – und gab bei dem Historiker Bernd A. Rusinek ein Gutachten in Auftrag, das 1988 zu dem Ergebnis kam, die Edelweißpiraten seien keine Kriminellen gewesen, aber auch kein »auf hoher ethischer Gesinnung basierender Widerstand«. »Kein Widerstand auf hoher ethischer Basis – was für ein Quatsch!«, sagt Jülich. »Wir waren 15, 16 Jahre alt – was sollten wir machen!«
Das Gutachten ärgert ihn, immer noch. Endlich wurde über die Edelweißpiraten gesprochen – »und dann hat man den Rusinek geholt, und hinterher waren wir wieder da, wo man uns haben wollte.« Heute gibt es in Ehrenfeld eine Bartholomäus-Schink-Straße. In den Gerichtsakten ist Barthel Schink immer noch ein Krimineller.
Lust auf Streit
Vor etwa zehn Jahren hat Jean Jülich begonnen, seine eigene Geschichte auf Band zu sprechen. Jetzt hat er daraus ein Buch gemacht über sein Leben – ein gutes Buch: Klar, konkret, ohne Nostalgie und Pathos. Seine Geschichte, als wäre sie die normalste der Welt. Und doch weiß Jean Jülich genau, dass es alles andere als normal war, gegen die Nazis zu sein – wenn Lehrer stramm stehen ließen zum Hitlergruß, Nachbarn die Verhaftungen beguckten, die »Tippfräulein« bei den Folterungen der Gestapo ungerührt daneben standen. Deshalb hat er immer noch Lust auf den Streit mit denjenigen, die weiter behaupten, Edelweißpiraten seien Kriminelle gewesen, oder zumindest keine Widerständler.
»Wir haben gemotzt«, sagt Jean Jülich. »Wir liefen als lebende Litfaßsäulen des Widerstands in der Gegend rum. Wir waren voll aufgetakelt mit bunten Hemden und Edelweiß und Totenkopf – man sah es uns an, und man wusste es auch. Und dieses Motzen in einem totalitären Regime, das ist was Einmaliges. Es hat ja keiner die Schnauze aufgetan.«
Jean Jülich: Kohldampf, Knast un Kamelle. Ein Edelweißpirat erzählt sein Leben. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 192 S., 19,90 Euro.
Erscheint Ende September.
Lesung
Jean Jülich stellt sein Buch gemeinsam mit den Bläck Fööss vor: am 30. Oktober um 19 Uhr in der Stadthalle Mülheim. Eintritt frei.