Das Hohe und das Verkochte

Im Mittelmaß zwischen Goethescher Textlast und uferlosem Ballhaus-Blues: Intendant Marc Günther hat seine zweite Spielzeit am Kölner Schauspiel eröffnet. Alexander Haas über Goethes »Tasso«, Bonds »See« und das Projekt »Le Bal«

Man hätte gewettet, dass das Kölner Schauspiel mit Goethes »Torquato Tasso« in seine zweite Saison startet, um so nach all den kulturpolitischen Strapazen einen saftigen Kommentar abgeben zu können. Die für den historischen Renaissancedichter Tasso tragischen Differenzen zwischen Kunst und Leben, Kunst und Politik bestimmen Goethes klassizistisch komponiertes Drama. So manchem Stadttheaterintendanten kommt es deswegen momentan sehr zupass.
Den Regisseur Niklaus Helbling interessiert diese kritische Perspektive allerdings nicht. Der gebürtige Schweizer hat Goethes textlastiges Kammerdrama, verfasst in freiem und doch ganz ebenmäßig klingendem Vers, jetzt zum Spielzeitbeginn in der Schlosserei inszeniert und geht dabei einen eigenen Weg. Goethes Musentempel Belriguardo, Residenz des Fürsten Alfons II. und Ort der Handlung, zeigt er eher zeitneutral als geräumige, im Hintergrund mit viel noblem Stoff ausgehängte Luststätte inklusive Billardtisch, Staffelei und veritablem Brunnen (Bühne: Dirk Thiele). Dieser Hausherr muss Zeit und Geld haben: Martin Reinke spielt ihn gleich im ersten Auftritt brillant als witzchenverliebten, verschwenderischen Mäzen. Seine Gäste sind neben seiner Schwester, der Prinzessin (Anja Laïs), und deren Freundin Leonore (Sandra Fehmer), noch der junge Dichter Torquato Tasso (Tonio Arango) und Alfons’ Chefdiplomat Antonio (Jörg Lichtenstein). Zwischen diesen vier entfaltet Goethe sein komplexes Schauspiel um Liebesintrigen, Geschlechterfragen und den zentralen Konflikt zwischen Tasso und Antonio: Kunst versus tätiges Leben, Kunst versus Politik und »Welt«, wie der Weimarer das nannte, dessen eigenes Leben zwischen höfischem Job und freier Kunst selber von dieser Dissonanz geprägt war.
Helbling macht zu keinem der Themen des Stücks ein explizites Statement. Seine gut zweieinhalbstündige Aufführung versucht höchstens, das Drama von innen heraus zu pointieren. Sie hält sich an Goethes vom Wort geprägte Dramaturgie und gewinnt ihre Souveränität, trotz erheblicher Längen, aus den Spielern und deren Führung. Tonio Arango, in Köln nur Gast, bringt einem die Titelfigur durch sein bewusst manieriertes Spiel nahe: ein talentierter, selbstbewusster und intelligenter Autor, ein verwöhntes und modisch durchgestyltes Kind reicher Eltern, getrieben vom Willen zur (poetischen) Wahrheit, ohne wirklich zu wissen, was das noch sein soll. Ebenso nervöser Euphoriker wie (posenhaft) Zerrissener, Stratege wie Heulsuse. Sein Credo: »Erlaubt ist, was gefällt«. Dekadenz auf höchstem Niveau.
Stärker als bei Goethe wirkt dieser Tasso als bewusster Spieler, das Pathos und die Zierformeln seiner Epoche funktionieren für ihn nur noch als Zitat, zwischen Pastiche und Parodie. In der Konfrontation mit Antonio schraubt sich der junge Dichter, wie bei Goethe, immer höher in einen Selbstkonflikt hinein. Der (Frauen-)Kontrahent ist das aus dessen Selbstzweifel gespeistes Alter Ego Tassos: erfolgreicher Mann der Welt und des business. Helbling lotet diese Bewegung subtil und mit mäßiger Ironie aus, verliert sich aber gleichzeitig in einer äußerst langwierigen Seelenexegese, die sich ausschließlich im Kunstraum abspielt.
Wer dagegen verfolgen möchte, wie man so richtig Theaterwind macht, sollte sich die neue Inszenierung von Marc Günthers Vorgänger im Intendantenamt, Günter Krämer, ansehen. Zur Eröffnung im Großen Haus führte der Ex-Hausherr, dessen Vertrag ihm noch bis 2005 regelmäßig Schauspiel-Arbeiten in Köln zusichert, Regie bei Edward Bonds stark verstaubtem Existenzialdrama »Die See« aus den 70er Jahren. Wo bei Helbling eine deutliche inszenatorische Markierung fehlt, ist sie beim erfolgreichen Opernregisseur Krämer im anachronistischen Überfluss vorhanden: In der eröffnenden Schiffbruchszene donnert mit viel Bombast der Sturmsoundtrack los, rennen melodramatische Menschen über die sehr gruselig in Nebel und helles Scheinwerferlicht gehüllte Bühne und schreien »Hilfe! Hilfe!«. Peinlich, wenn Theater behauptet, Theater zu spielen.
Bond thematisiert die Angst und Gewalt der modernen Gesellschaft. Zur Entstehungszeit mögen seine symbolschweren Menschheits-Ratschläge noch Wirkung gehabt haben. Heute klingen sie abgedroschen. Krämers opernhafte Theaterhuberei hat aber wenigstens einen gewissen Schau- und Unterhaltungswert, wozu natürlich die Beherrschung der Mittel beiträgt. Und sie hat vor allem die phänomenale Traute Hoess. Alleine sie verleiht dem realitätsfernen Abend eine publikumsnahe und selbstironische Durchlässigkeit.
Was das Kölner Schauspiel durch die Zwangsehe mit Günter Krämer an zeitgenössischer Theatersprache verliert, gewinnt es – an der Oberfläche – zum Beispiel durch Ola Mafaalani zurück. Marc Günther hat die junge, vor allem in Holland arbeitende Regisseurin trotz ihres umstrittenen »Othellos« der letzten Saison erneut eingeladen. Mitgebracht hat sie eine eigene Fassung des in den 70er Jahren vom Théâtre du Campagnol konzipierten Stücks »Le Bal« (Das Ballhaus). Wie ihr »Othello« hinterlässt auch dieser Hybrid aus Musiktheater, Schauspiel und Songabend einen zwiespältigen Eindruck. »Le Bal« versucht alle möglichen körperlichen wie geistigen Sehnsüchte am Beispiel der Erzählung eines Mannes mit der kollektiven Geschichte der Nachkriegs-BRD zu verschränken. Einerseits zieht Mafaalani das Publikum durch ihre wilde, musik-, emotions- und bildlastige Theatersprache in ihren Bann. Andererseits gelingt es ihr auch diesmal nicht, all die Assoziations- und Bilderwut ausreichend glaubwürdig zu machen. Irgendwann kapiert man wieder mal nicht mehr, was vor sich geht. Wieder mal rennen alle kreuz und quer und aneinander vorbei über die Bühne, und wieder mal berührt einen der Aufwand nicht in dem Maße, wie seine produzierte Intensität und Energie es behaupten.
Dabei fängt alles so schön an. Man betritt die Halle Kalk, und das Ballhaus, Ort der Handlung, ist schon offen, inklusive nicht versteckter Schminkstation und Garderobe. Irgendwann geht’s dann richtig los, mit einem langen, kakophon ausufernden und vom Musikchef des Abends Wim Willaert wild verjazzten Tango. Immer wieder im Wechsel mit den Musik- und Songszenen betritt dann ein Mann (Ralf Harster) die Ballhaus-Szene und erzählt in Fragmenten seine deutsche Lebensgeschichte seit 1947. Das passt gut zusammen und zieht einen ins Geschehen: Nachkriegsdepressionen, Geld- und Lebensmangel einerseits, das Ballhaus und mit ihm das Tanzen als Ort der großen Sehnsucht andererseits. Dann breiten sich Musik, Songs – starke Interpretationen der Schauspieler von legendären Schnulzen wie »Ich will nen Cowboy als Mann« – und Tanz immer mehr aus. So lange bis sich die zunächst kohärente Erzählung des Mannes im Chaos verliert: in den Sehnsüchten, die sich in der jeweiligen Musik spiegeln, in den von Harster knapp rausgeschrieenen oder auf die Holzmauer im Hintergrund geschmierten Parolen der jeweiligen Dekade (»Made in Germany«, »APO«, »Emanzipation« usw.).
Dieses Auseinanderdriften gibt das Programmheft zwar als Konzept aus. Aber die Differenz zwischen der Behauptung und ihrer szenischen Glaubwürdigkeit bleibt als spürbarer Mangel bestehen. Zum völlig unvermittelt einbrechenden Schluss, nachdem für den Zuschauer jede zeitliche Orientierung verloren ist, tanzen noch ein mal zwei Kids vom Anfang. Jetzt in professionellen Wettbewerbskostümen und mit einer perfekt vorgeführten Tanznummer. Die Disziplinierung (schon am Kind) aller unerfüllt gebliebenen Sehnsüchte eines Lebens? Dessen Träger aber, der Erzähler, ist unterwegs irgendwie verloren gegangen.

Info:
»Die See« von Edward Bond, R: Günter Krämer, Schauspielhaus, 6., 7.11., 19.30 Uhr.
»Le Bal« nach einer Idee des Théâtre du Campagnol, R: Ola Mafaalani, Halle Kalk, 7., 8., 26.11., 19.30 Uhr.
»Torquato Tasso«, R: Niklaus Helbling, Schlosserei, wieder im Dezember