H-Milch im Becher — unsere letzte Chance!

Meinetwegen sollen sie meine Gedanken lesen. Aber sie werden es nie schaffen, dass ich vor ihnen auf die Knie falle und das »super knuffig« finde. Auf den Knien hatten sie mich allerdings schon. Es war ein Hexenschuss, ein Attentat aus der Schattenwelt auf mein Gleichgewichtssystem mit der Wucht einer Kalaschnikow. Gedankenlesen, Hexen, russische Schusswaffen — mein Alltag gleicht einem Mystery-Thriller. Das machen sie absichtlich. Ich weiß nicht mehr, wie ich vom Boden meines Badezimmers in diese orthopädische Praxis gelangte — waren Außerirdische involviert? Ich gebe keine Antworten, ich stelle nur Fragen.

 

Die orthopädische Praxis war merkwürdig. Keine Keith-Haring-Bilder! Jede Arztpraxis hat Keith-Haring-Bilder! Vergessen Sie Verschwörungstheorien, das war die Verschwörungspraxis. Jemand, dessen Namensschild ihn als Teil einer Loge namens »Ihr freundliches Praxis-Team« auswies, fragte: »Wie dürfen wir Ihnen denn helfen?« Wenn man winselnd und gekrümmt wie ein mittelalterliches Kräuterweiblein an der Wand einer vermeintlichen orthopädischen Praxis lehnt, ist das eine sehr ungewöhnliche Frage. Hatten die Arzthelferinnen eine Weiterbildung zum therapeutischen Witzbold absolviert? Ein alternativmedizinisches Konzept? Ich konnte keine entsprechenden Urkunden entdecken. Sonst hängen sie doch alles gerahmt auf. »Wie dürfen wir Ihnen denn helfen?«, wiederholte mechanisch der Arzthelferinnen-Android. Ich wollte flüchten, kam aber nicht von der Stelle. Der Hexenschuss!

 

»Ich weiß nicht wie sie helfen können, tun sie verdammt was«, hörte ich jemanden schreien. Das war wohl ich. Bettelnd befahl ich: »Geben sie mir eine verdammte Spritze!« Ich war willenlos. Der Arzt, der plötzlich neben mir stand, raunte: »Das dachte ich mir«. Er schleppte mich nach nebenan und stach mehrfach zu. Ich wartetetetete... Ich sagte, die Spritzen würden nicht wirken. Der Arzt tat verwundert. Er gab mir Schmerztabletten zu essen. Und bevor unser Mystery-Thriller hier ins Genre der Krankenhaus-Krimis abzudriften droht, teile ich lieber unverzüglich meine Recherchen über das Gedankenlesen höherer Mächte mit. Falls diese Zeitung sich traut, das abzudrucken!

 

Die Gedankenleser sind überall. Bei Trinkhalle Hirmsel stellt man mir unaufgefordert drei Flaschen Bier hin. Woher weiß Herr Hirmsel, dass ich das will? Weil ich hier jedes Mal drei Flaschenbier kaufe? Ist das nicht eine allzu simple Erklärung? Das Wechselgeld auszurechnen, dauert bei ihm so lange, als würde er eine Lösung suchen, ob alle nicht-trivialen Nullstellen in der Riemann’schen Zeta-Funktion den Real-Anteil 1/2 besitzen... Warum stellt er sich dumm? Womit hat man ihn geködert, damit ich meine Zeit in seiner Trinkhalle vertrödele?

 

Fällt nur mir das auf? Alle anderen sind offenbar schon brainwashed. Gesine Stabroth sagt, wie »super knuffig« es sei, dass sie in ihrem Kiosk-Café morgens ungefragt den Soja-Latte hingestellt bekomme: »Die lesen einem den Wunsch von den Augen ab.« Mich fröstelt. Die Menschen widersetzen sich sich nicht, sie beglückt die Gedankenkontrolle! Ich empfehle dringend, stets andere Kaffeezubereitungen zu bestellen, darauf sind die Handlanger der höheren Mächte nicht programmiert. Ich denke »Kaffee schwarz«, und bestelle dann mal Soja-Latte, mal Cappuccino mit Vanille-Flavour, mal einfach eine kalte H-Milch im Becher — das ist ekelig, aber verwirrt sie!

Meinetwegen sollen sie meine Gedanken lesen. Aber sie werden es nie schaffen, dass ich vor ihnen auf die Knie falle und das »super knuffig« finde. — Das haben Sie schon mal gelesen?! Seltsam, oder?

 

Vielleicht war es ein Fehler, nach der Spritze und den Schmerztabletten drei Bierflaschen leerzutrinken. Gesine Stabroth behauptet das. Kann ich ihr trauen?