Bekenne dich zur Wirklichkeit
In einem Stück, das Igor Bauersima im vergangenen Jahr zusammen mit Réjane Desvignes geschrieben hat, gibt es diesen Künstler: Tiger. Ein junger Typ, der Installationen zusammenbastelt, gerne auch mit Video, und damit Erfolg hat. Nachdem er in L.A. den Swimmingpool eines Filmstars verschönert hat, schaut er mal kurz bei Freunden in Old Europe vorbei, so als Stopover vor der Kunstmesse in New York.
Bauersima selbst, der in Zürich und Lausanne Architektur studiert hat, macht seit Anfang der 90er Jahre Filme, schreibt und inszeniert Theatertexte. Gerne auch mit Video. Zwischen Produktionen in Hannover, Düsseldorf oder Salzburg zieht der 1964 Geborene sich in sein Arbeitszimmer in Paris zurück oder schaut auf einen Entwurf in dem Architektenbüro vorbei, das er in Zürich mit Kollegen gegründet hat. Apropos Erfolg: »norway.today«, sein Stück über eine Chat-Verabredung zum Selbstmord, vor drei Jahren in Düsseldorf uraufgeführt, ist inzwischen in 16 Sprachen übersetzt, und von 100 Theatern weltweit nachgespielt worden.
Dynamische Künstlerkarrieren – insofern haben Igor Bauersima und Tiger etwas gemeinsam. Aber das war’s dann auch. Denn die Figur aus »Tattoo« ist mehr von der abgezockten Sorte. Die Sache mit dem Pool des Filmstars zum Beispiel. Da hat Tiger wahllos Glasplatten reingeklebt, mit Textfragmenten drauf. Und als ihn ein Freund fragt, welche Ordnung er angesteuert, welche Kriterien er angewendet habe, ist der Künstler verdutzt: Mein Gott, verschwindet doch alles beim nächsten Erdbeben. »Solange du deinem Publikum die Verantwortung für den Inhalt überlässt, denkt es sich was, und du bist fein raus.«
So etwas würde Bauersima selbst nicht einfallen. Geschrieben hat er den Satz, aber unterschreiben würde er ihn kaum. Was für ihn zählt, ist der Inhalt. All diese Thesen von Bedeutungen, die immer flott unter den Zeichen wegrutschen, von Medien, die selbst die Message sind, oder von der Vorherrschaft der Simulation – damit kann Bauersima wenig anfangen. Nein, er glaubt, dass Worte Sinn tragen und dass man den an der Wirklichkeit überprüfen kann. Er spricht von Wahrheit, ohne seine Stimme ins Ironische gleiten zu lassen. Unter philosophisch gewappneten Menschen gelte das natürlich als unchic, sagt er. Aber was soll’s. Bauersima versucht einfach, sich der Verantwortung für Inhalte zu stellen. Bevor er was Falsches sagt, sagt er im Zweifelsfall gar nichts.
Das kann zu lustigen Szenen führen. Dann sitzen vor seiner jüngsten Produktion, der Uraufführung von »69«, in Düsseldorf die Journalisten um ihn herum und versuchen Details aus ihm herauszukriegen. Was passiert denn jetzt in dem Stück? Warum dieser Titel? Wie sieht die Bühne aus? Bauersima antwortet sibyllinische Sachen: Die Bühne sei »auf ‘ne Art extrem spektakulär und auf ‘ne Art super simpel«. Gerade die Handlung will er nicht genauer wiedergeben, denn schließlich hat er von dem Stück drei Versionen geschrieben, die abwechselnd gezeigt werden. Und wenn er jetzt eine konkrete Aussage wagt, passt sie vielleicht auf eine Version, aber nicht auf die anderen. Und dann hätte er ja etwas Falsches gesagt. Außerdem hat Bauersima die Sorge, dass niemand auf seine eigentlichen Anliegen achtet, wenn er zuviel über Oberflächliches redet. Dass die Leute nur noch die Krimigeschichte sehen, den Fall von Kannibalismus, der eine Punkrock-Sängerin und einen Ermittler übers Internet zusammenführt, und der sich von fern auf den einschlägigen Fall aus dem letzten Jahr bezieht. Dabei geht es ihm doch um die Freiheit, um die Frage, bis zu welchem Punkt wir frei über unser Leben verfügen können.
Erstaunlich, dieser Mann und seine Überzeugungen. Irgendwie erwartet man es nicht von einem angesagten Fiktionsprofi, dass er sich als Anhänger der Aufklärung zeigt. Außerdem merkt man seinen Texten auf den ersten Blick gar nicht an, dass ihr Autor ziemlich genaue Vorstellungen davon hat, was der Mensch hoffen darf, tun soll und erkennen kann. Mit einem Urteil über seine Figuren hält sich Bauersima zurück: »Ich bin kein Wanderprediger.« Tiger zeichnet er keineswegs als Ekelpaket, das man von vorneherein ablehnen müsste. Der hippe Zyniker kriegt seine Chance. Er darf witzig sein und ein wenig vom Charme des Erfolgs versprühen. Nachdem er seinen eigenen Tod vorgetäuscht und seine Freunde bespitzelt hat, um Material für ein neues Projekt zu gewinnen, schlägt ihm allerdings sein Assistent den Schädel ein. Mit einem Stück Kunst. »Jedesmal, wenn ich versuche, die Wirklichkeit zu übertölpeln, stoße ich mit dem Kopf auf die Wand«, versichert Bauersima.
Trotzdem gibt es Realitäten, die nicht so leicht zu orten sind, zumal in einer Zeit, die im allgemeinen von Wahrheit und Moral wenig hält. Deshalb bildet Bauersima die Ambivalenzen gleich mit ab. »Es geht in meinen Stücken oft um Leute, die in diesem Zeitgeist gefangen sind.« Die Geschichten können merkwürdig changieren. Bei »Tattoo« stellt sich der ganze Tiger-Plot am Schluss als Fiktion heraus: als Roman im Stück. Bei »69« vervielfältigen sich die Interpretationsmöglichkeiten, weil es drei verschiedene Abende gibt. Zwar sind immer dieselben Szenen zu sehen, aber sie wechseln ihre Reihenfolge. Entsprechend wandelt sich etwa, was man von dieser Frau im Stück hält, die das Recht aufs Verspeistwerden verteidigt, aber bestreitet, selbst zum Besteck gegriffen zu haben.
Selbst wenn man nur die erste Version von »69« sieht – »Das Schlechte« –, treten die Dinge nicht einfach klar zu Tage. Hat sie jetzt oder hat sie nicht? Und was genau will der Mann von der jungen Frau, die er verfolgt und verhört? Eins jedoch ist offensichtlich, von allen theoretischen Reflexionen abgesehen: Bauersima beherrscht das Handwerk. Die Geschichte, die er erzählt, lässt sich nicht nur zerlegen und anders zusammenstecken, sondern entwickelt auch Suspense. Die Sprache klingt wirklich gesprochen, die Dialoge haben Zug. Den sie allerdings brauchen. Es wollen nämlich zwei etwas schwerfällige Passagen mitgeschleift werden. Einmal ballert die Frau eine Textbreitseite auf einen Gegner, der sowieso schon am Boden ist: die christliche Weltanschauung. Und einmal führt der Mann eine Klage über das inauthentische Leben, die aus älteren WG-Küchen allzu vertraut ist.
Doch vor allem hat der Autor und Regisseur Bauersima zusammen mit der Schauspielerin Birgit Stöger, die in Düsseldorf zum vierten Mal mit ihm arbeitet, eine glamouröse Figur geschaffen. Vivian singt Kannibalenlieder zur E-Gitarre. Sie zitiert das ganze Vokabular der Verführung: blonde Perücke, träumerische Wärme in der Stimme, ein paar geschmeidige Bewegungen auf allen Vieren. Im nächsten Moment zieht sie die langen Reißverschlüsse an ihren Ärmeln und Hosenbeinen wieder zu, Verachtung blitzt in ihren Worten. Zweifellos ist sie mit den amerikanischen Femmes fatales der 40er Jahre verwandt.
Wunschbilder können doch so hübsch sein, möchte man ihrem Autor zurufen, was soll uns da die Wahrheit? Aber dass Vivian so lebendig wirkt (oder vivante, wie es im Französischen heißt), liegt wahrscheinlich gerade daran: Beide, sie und ihr Autor, haben genau hingeguckt, wie die Welt in echt aussieht. »Ich bekenne mich zur Wirklichkeit«, sagt Vivian. Man ahnt, von wem sie diesen Grundsatz hat.
Info
»69 – das Schlechte« von Igor Bauersima, R: Igor Bauersima, Düsseldorfer Schauspielhaus, Kleines Haus, 10.12., 20 Uhr. Die Versionen »69 – das Gute« und »69 – das Gericht« sind zu sehen am 1. bzw. 5.12., Kleines Haus, 20 Uhr.