Bestandsaufnahme
August Sander und Köln – dies scheint eine glückliche und dauerhafte Verbindung zu sein: Kaum lässt es sich vermeiden, beide in einem Atemzug zu nennen. Nicht nur hat der Fotograf, der Ende 1909 in die Rheinmetropole zog und ein Atelier eröffnete, die Menschen, denen er hier über die Jahre begegnete, in unzähligen Porträts verewigt und zugleich ihr soziales Milieu dokumentiert. Sander hat auch von ihrem kulturellen Erscheinungsbild im Wandel der Zeit – von den »Goldenen« Zwanzigern bis in die Bonner Republik – Zeugnis abgelegt. Die Stadt dankt es ihm, indem sie den Fotografen zu einem ihrer Leitsterne erhebt. Insbesondere die Photographische Sammlung, deren wichtigstes Kapital der aus gut 11.000 Negativen bestehende Nachlass August Sanders darstellt, hat sich um ihn verdient gemacht. Seit mittlerweile zehn Jahren erforscht man dort das umfangreiche Sandersche Werk und informiert das fotografieinteressierte Publikum von Zeit zu Zeit in Ausstellungen über ihre Erträge: Erst im vergangenen Jahr wurden August Sanders vielfältige Beziehungen zur rheinischen Kunstszene der 20er Jahre in einer opulenten Schau präsentiert.
Wie Vorübungen wirken die bisherigen Aktivitäten jedoch angesichts des jüngsten Ausstellungsprojekts: Aus Anlaß des 125. Geburtstages des Fotografen zeigt die Photographische Sammlung in diesem Herbst erstmalig Sanders epochales Mappenwerk »Menschen des 20. Jahrhunderts«, das er Mitte der 20er Jahre konzipierte und an dem er bis zu seinem Tod 1964 arbeitete, in einer umfassenden Retrospektive. Nichts weniger als ein fotografisches Menschenbild seiner Zeit wollte Sander erstellen. Für dieses ehrgeizige Vorhaben fotografierte er Menschen unterschiedlichster Herkunft und Profession: Bauern, Handwerker, Arbeiter, Beamte, Aristokraten und Geistliche, bäuerliche Groß- und bürgerliche Kleinfamilien, die »elegante« wie die »Frau im geistigen und praktischen Beruf«, Sportler, Politiker und Künstler, aber auch verfolgte Juden, politische Gefangene und Zwangsarbeiter. Von diesem legendären und in seiner Art vielleicht nur mit Eugène Atgets fotografischer Bestandsaufnahme von Paris vergleichbaren Projekt, das Sander unvollendet hinterlassen hat, schwärmen Fotofreunde noch heute, stellt es doch einen Meilenstein der Porträtfotografie des 20. Jahrhunderts dar.
Bekannt wurde Sanders Jahrhundertchronik durch eine Auswahl von sechzig Aufnahmen, die er bereits 1929 unter dem Titel »Antlitz der Zeit« veröffentlichte. Im Vorwort zu diesem Kompendium, der wahrscheinlich wichtigsten Fotografiepublikation der Weimarer Republik, attestierte Alfred Döblin dem Fotografen, mit seinen Porträts eine »Gesellschaft im Umbruch« zur Anschauung gebracht zu haben. Das ganze Ausmaß des Sandersches Projekts entfaltete jedoch erst der von Gunther Sander und Ulrich Keller 1980 herausgegebene Band »Menschen des 20. Jahrhunderts«, der eine Übersicht über Sanders Gliederung der mehreren Hundert Aufnahmen in 45 Mappen, die wiederum sieben Themenkomplexen zugeordnet waren, enthielt.
Die dort getroffene Auswahl und Einteilung der Fotografien sucht die Kölner Retrospektive in wichtigen Punkten zu korrigieren. Für eine möglichst genaue Rekonstruktion der von Sander selbst vorgenommenen Zuordnung, hat man nicht nur die Beschriftungen auf den Fotografien und Sanders Korrespondenz einer erneuten Lektüre unterzogen. Man hat sich auch für die Rekonstruktion der »Stammappe«, die dem bäuerlichen Leben galt, in den Westerwald aufgemacht, dort noch immer ansässige Familien befragt und deren Fotoalben konsultiert, um die Personen auf den Fotografien, die Sander für das Mappenwerk vorgesehen hatte, zu identifizieren und die Aufnahmen zu datieren. Durch diese mühselige Kleinarbeit wurden auch einige interessante Überraschungen zutage gefördert. So hat selbst August Sander sich nicht immer an die eigenen Prinzipien und die selbstgewählte Symmetrie gehalten und oft mehr als die zwölf vorgesehenen Aufnahmen zu einer Gruppe zusammengestellt. Auch ist er bei der Einordnung der Fotoporträts nicht immer streng der sozialen Logik der Stände und Berufsgruppen gefolgt. Die Aufnahme eines Metzgergesellen etwa findet sich nicht – wie zu erwarten – bei der Gruppe der Handwerker wieder, sondern – wegen seines eitlen Gebarens und seiner großbürgerlichen Aufmachung – unter den Aristokraten. In solchen Fällen hat Sander sein Interesse an den Physiognomien der Porträtierten, ihren Ähnlichkeiten in Habitus und des Gesichtsausdrucks, über seine soziale Klassifikation der Einzelmappen gestellt.
Diesem archivarischen Blick auf das Sandersche Porträtwerk stellt die Retrospektive, für die insgesamt 619 wertvolle Originalabzüge, sogenannte Vintageprints, aus den Beständen der Photographischen Sammlung und von verschiedenen Leihgebern ausgewählt wurden, den auf einen randständigen Bereich aus dem Sammelwerk »Menschen des 20. Jahrhunderts« zur Seite. Sie lässt insbesondere die Mappe, die der Problematik der Großstadt gewidmet ist, in einem neuen Licht erscheinen. Sanders Aufmerksamkeit galt nämlich nicht nur den traditionellen Ständen, sondern auch den sich neu bildenden Gruppen und Schichten sowie den gesellschaftlichen Randgruppen. Die Großstadt als historischer Schauplatz sozialer Umwälzungen erweist sich in dieser Hinsicht als besonders ergiebig. So hat Sander hier nicht nur Aufnahmen vom »Leben und Treiben« auf der Straße, »Von den Festlichkeiten«, der »Jugend der Großstadt« oder den »Typen und Gestalten der Großstadt« versammelt, sondern auch Porträts von Menschen integriert, die als Kriegsversehrte, Bettler oder Hausierer an seine Tür kamen. Hier erzielt die Forschungsarbeit bemerkenswerte Ergebnisse und präsentiert folgerichtig eine neue Mappe mit dem Titel »Menschen, die an meine Tür kamen«.
Parallel zur Ausstellung, mit der die Photographische Sammlung nicht nur August Sander ehrt, sondern auch sich selbst feiert – nämlich ihr 25jähriges Bestehen – wird eine umfangreiche Neuedition des gesamten Kompendiums »Menschen des 20. Jahrhunderts« in sieben Bänden und einem Studienband vorbereitet. Mit dieser publikatorischen Großtat wird nicht nur Sander ein Monument errichtet, wie es nur wenigen Fotografen vergönnt ist, sondern auch eine seit der Erstveröffenlichung »Antlitz der Zeit« andauernde Beschäftigung mit seinem Jahrhundertprojekt in sichere Bahnen geleitet. Wer diese Monumentalisierung eines vielleicht zurecht unabgeschlossen gebliebenen Werks bedauert, mag sich mit den vielen bisher noch nie oder selten gezeigten Aufnahmen trösten, die die Ausstellung »Menschen des 20. Jahrhunderts« als Augenfest zelebriert.
Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Im Mediapark 6, bis 18.11.2001, Eintritt 8/4 DM. Am 19. und 20. Oktober findet dort ein Symposium zu »August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts« statt.