Foto: Manfred Wegener

Zwischentöne nach dem Klassenkampf

Auch in Köln war man auf den Beinen: Ein Mega-Reader will die

linke Stadtgeschichte der 70er und 80er Jahre dokumentieren

Augen auf, wenn Sie durch Köln gehen und genau hinschauen und dann… nichts sehen können (oder wollen): Linke Orte in Köln zu entdecken, ist ein mühsames Geschäft. Die drei pittoresk angegammelten Altbauten auf der Marienstraße: noch besetzte Häuser oder schon Spekulationsobjekte? Die Alte Feuerwache: war die mal mehr als Familientreff und Bücherflohmarkt? Das heroisch besetzte Stollwerck: immer schon ein Bürgerzentrum gewesen? Und wo geht’s noch mal zur StadtRevue? Heute teilt sich die StadtRevue ihren Eingangsbereich mit einem bei jungen Leuten beliebten Club, der ArtyFarty-Gallery. Man kann das durchaus als Ironie der Geschichte verstehen, denn Kunst und Kultur spielten im StadtRevue-Universum der 70er und 80er Jahre eine entschieden subalterne Rolle. Kultur war einfach das, was noch übrig blieb, wenn alle großen und kleinen politischen Angelegenheiten diskutiert waren, eine Restkategorie.

 

Im bundesweiten Ranking der linksradikalen »Scenen« nimmt Köln heute etwa die Rolle ein, die der Hamburger Sportverein (HSV) schon seit längerem in der Bundesliga spielt. Irgendwann in grauer Vorzeit war man ganz vorne, mittlerweile kämpft man mit wechselnden Kampagnen und Konzepten gegen die Bedeutungslosigkeit. Wobei das Selbstbild vieler Beteiligten und wohl auch etlicher Veteranen merkwürdig verschoben scheint: Demnach wähnt man sich nämlich immer noch ganz vorne.

 

Vor sechzehn Jahren erschien ein liebevoll und sorgsam zusammengesteller Band: »1968 am Rhein: Satisfaction und Ruhender Verkehr«, herausgegeben vom ewigen Szeneaktivisten und Zeitzeugen Kurt Holl und der Historikerin Claudia Glunz. Verleger Pui von Schwind kam auf die nahe liegende Idee, das geglückte Experiment für die alternativen 70er und 80er Jahre zu wiederholen, wenig später stieg Reiner Schmidt (Sozialistischer Deutscher Studentenbund, Arbeiterkampf, Kommunistischer Bund, heute Interventionistische Linke) ein und noch ein wenig später drohte das Projekt an akuter Überforderung zusammenzubrechen: zu groß, zu umfassend, zu wuchernd. Denn die Herausgeber wollten vor allem die Protagonistinnen und Protagonisten von damals zu Wort kommen lassen, das Buch als Bühne eines unendlich vielstimmigen Chors.

 

Helge Malchow, Verleger von Kiepenheuer & Witsch und selbst mit einer »70er-Biorgaphie« im Rücken, bot an, das Buch in seinem Verlag zu veröffentlichen. 2011 kam noch Anne Schulz neben Schwind und Schmidt als dritte Herausgeberin dazu. Die 1960 geborene Journalistin, Anfang der 80er Jahre in der radikalen Öko-Bewegung aktiv, repräsentiert die jüngere Generation. Jetzt ist, nach mehr als sieben Jahren Diskussion, Kontroverse, Gegenlesen und noch mal Diskussion, »Die Stadt, das Land, die Welt verändern!« erschienen, 632 Seiten, 130 Beiträge, das HSV-Gefühl. Auch Grabsteine wiegen schwer.

 

Das Buch ist ein eigentümliches Dokument geworden, es erzählt vielleicht mehr über unsere Zeit als über »damals«. Denn der Band ist weder eine souveräne wie streitbare Deutung von Historikern noch eine strenge Chronik. Eingerahmt von knappen historischen Einleitungen, für die hauptsächlich Reiner Schmidt verantwortlich zeichnet, finden sich ausschließlich Rückblicke der alten Aktivistinnen und Aktivisten. Und diese dokumentieren einen höchst selektiven Blick. Man kann diese Rückblicke auch als Selbstgespräch der in vielen Fällen bloß noch phantomhaften Subszenen verstehen: K-Gruppen, Hausbesetzungen, Antiimperialismus und Autonomie, Internationale Solidarität, die letzten Arbeiterbe-weger, Bürgerinis, Kollektivbetriebe (drei Kapitel Stadt-Revue!), Antifas, Öko-, Frauen-, Anti-AKW-Bewegung. Und so weiter. Das Spektrum ist riesig, der Zusammenhang untereinander — hat es ihn nun gegeben oder nicht? — nie ganz klar. In dem Buch stehen solche Sätze: »Ich traf Verrückte, linke Spießer, Drogensüchtige, Aufschneider, Aufreißer, Altlinke und Jungpunks. Ich traf Stalinisten, Maoisten und Trotzkisten — und -innen. Ich traf auch ›Weizen-Werner‹, ›R4-Karl‹ und ›Drei-Finger-Jo‹.«

 

Und solche: »Ende der 80er begann die autonome Szene — auch in Köln — sich mit Antirassismus/Antifaschismus zu befassen.« Ich hätte gerne mehr über Weizen-Werner, R4-Karl und Drei-Finger-Jo erfahren.

 

Die Melancholie währt nur kurz, denn jetzt geht es volle Pulle Richtung Weltrevolution mit der MLPD, der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands. Ihr Kölner Parteiaufbauer Ernst Herbert weiß zu berichten: »Die MLPD und ihr Jugendverband REBELL sind heute in über 450 Städten und Regionen in allen Bundesländern vertreten. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder sind Arbeiter und einfache Angestellte. Der Frauenanteil liegt bei 42 Prozent.« Man sollte noch ergänzen, dass die MLPD nach hartem Ringen mit sich selbst zu dem Schluss gekommen ist, es habe auch Unschuldige unter den Opfern -Stalins gegeben. 

 

Die schönste Rache an den Betonköpfen: der fröhliche Anarcho-Positivismus der Herausgeber, es gibt keine Hierarchien, niemand ist hier Avantgarde und alle tanzen aus der Reihe. Das hätte das Selbstverständnis zumindest der 70er-Jahre-Linken mit ihren ausdifferenzierten Arbeiterbeglückungsprogrammen empfindlich getroffen, so gesehen ist das Kompendium ein später Sieg der lässigen Spontikultur. Oder auch nicht, denn Künstlerinnen oder Schriftsteller (im strengeren Sinne) tauchen bloß zusammengestaucht in einem Kapitel auf: »Kultur, Kunst und Bewegung«. Wobei Bewegung wortwörtlich zu verstehen ist: »Alternativer Fußball zwischen Spaß und Leistungsorientierung«, ist dort ein Erfahrungsbericht übertitelt. »Zwischentöne sind nur Krampf/ im Klassenkampf«, hatte einst Franz-Josef Degenhardt gezischelt, er wollte das Lied später nicht mehr intonieren.

 

Fotos gibt es auch kaum (mehr Bilder = weniger Text, da fällt die Entscheidung nicht schwer …), und hier wird es mal wirklich dramatisch. Denn dass Köln vor dreißig Jahren ungelogen und kaum übertrieben die Hauptstadt der besetzten Häuser war und dass vier Jahre ein stolzes AZ an der Weißhausstraße stand, wo sich heute pseudofuturistische Architektur rumlümmelt, das weiß doch keiner mehr, das glaubt euch doch keiner! Aber so war es. Als Jüngerer will man es dokumentiert sehen, aber man sieht es nicht. So verpuffen die schönen persönlichen Erinnerungen an Coming Out und »Summer of ’86« im AZ Weißhaus im hargen Raum der reinen Schrift.

 

Wer liest, benötigt Beharrungskraft, ein Kompass, die auch anrührenden, aufrichtigen, hart mit sich selbst ins Gericht gehenden Erinnerungsstücke vom Funktionärs-Bla-Bla und Politsprech zu unterscheiden, wurde dem Buch nicht beigegeben. Vielleicht ist das schon wieder subversiv: ein Anti-Buch, kann man auch mal wieder bringen. KiWi hat 1971 das drei-bändige Lexikon »Stars« von Zeichenschredderer Ferdinand Kriwet veröffentlicht — nur Bilder, kein Text, strukturell sind sich die Bücher ähnlich. Man sollte »Die Stadt, das Land, die Welt verändern!« als geronnene Performance verstehen, als soziale Skulptur. Eben als Ansammlung von Zwischentönen, die damals keiner hätte hören wollen, die aber nicht aus der Welt zu kriegen sind.