Wenn es drinnen kalt wird
Eigentlich macht Fetihye Buz fast alles richtig. Sie heizt nicht bei geöffnetem Fenster, der Fernseher läuft nur in den Abendstunden, und in ihrer 62-Quadratmeter-Wohnung in Chorweiler brennt nur das fahle Licht von Energiesparlampen. Trotzdem zahlt sie jeden Monat einen Abschlag von 46 Euro an die Rheinenergie — das ist auf Dauer zu viel für die freundliche alte Dame, die mit ihrer Rente gerade so über die Runden kommt. Doch neulich hat sie im türkischsprachigen Kanal D einen Beitrag über die »Stromsparchecker« gesehen. Das sind Menschen, die man zu sich nach Hause bestellen kann, damit sie Tipps zum Energiesparen geben und jeden Winkel nach versteckten Stromfressern absuchen.
Jetzt sitzen die Stromsparchecker bei Fetihye Buz auf der gepflegten silberfarbenen Sofagarnitur und gehen der hohen Stromrechnung auf den Grund. »Sieht eigentlich alles ganz gut aus«, sagt Melania Mankovska, die Protokoll führt. Doch dann entdeckt ihr Kollege einen blauen Apparat auf dem Balkon, der sich verschämt in die Ecke drückt. Es ist ein Gefrierschrank, und er ist angeschlossen. Mankovska springt auf. »Wie alt ist der?« Fetihye Buz überlegt. »30 Jahre? Eher 35.« Allgemeines Raunen. »Liebe Frau Buz«, sagt Mankovska und lacht, »vielleicht sollten Sie sich langsam von dem Kühlschrank verabschieden!«
Mankovska ist eine von fünf Stromsparhelfern, die im linksrheinischen Köln die Haushalte abklappern. Sie und ihre Kollegen sprechen Deutsch, Türkisch, Russisch und Persisch, bis vor wenigen Jahren waren sie arbeitslos und in einer ähnlichen finanziellen Lage wie die Haushalte, die sie jetzt besuchen. Beratung auf Augenhöhe, das ist die Idee. Mankovska, die in ihrer Heimatstadt Dnjepropetrowsk als Bauingenieurin Häuser baute, ist jetzt Stromsparhelferin aus Leidenschaft. »Das wird so gut angenommen, weil wir ja ganz praktisch helfen können«, sagt sie. 1750 Checks haben sie im Jahr 2013 durchgeführt, wodurch jeder Haushalt pro Jahr im Schnitt 80 Euro sparen konnte. Nach jedem Besuch bekommt der Haushalt Energiesparlampen, ausschaltbare Steckerleisten und einen Analysebericht ausgehändigt, in dem genau steht, welches Gerät wie viel Strom verbraucht und wie viel sich sparen ließe. »Was die Menschen damit anfangen, ist ihre Sache«, sagt Mankovska. Aber: »Die meisten ändern ihr Verhalten.«
Den »Stromsparcheck« können Hartz-IV-Empfänger und Geringverdiener seit 2010 in Anspruch nehmen. In Köln wird er vom Landesumweltministerium, der Energieagentur NRW sowie der Caritas finanziert, eingebunden ins Modellprojekt »NRW bekämpft Energiearmut«. Energieverbrauch kann seit einigen Jahren arm machen: Die Energiepreise sind seit 2004 im Schnitt um 43 Prozent gestiegen, die Reallöhne dagegen kaum.
Energiearmut ist die große Unsichtbare unter den Armutsformen. Armut lässt sich an schlecht geschnittenen Jeans von KIK oder einem Einkaufswagen voller Ja!-Produkte erkennen. Aber wie soll man sehen, ob ein Mensch es sich leisten kann, seine Wohnung ausreichend zu beheizen? Oder ob er Probleme beim Bezahlen der Stromrechnung hat, so wie Fetihye Buz? Von der Sozialbürokratie wird Energiearmut nur zögerlich zur Kenntnis genommen: »Es gibt in Deutschland keine Definition von Energiearmut«, erläutert Michael Kopatz vom Wuppertal-Institut (s. Interview Seite 30). Man kann das Ausmaß an Stromarmut nur schätzen, aber nicht genau bestimmen. Ein Indikator sind Strom- und Gassperren.
»Wir haben im gesamten Versorgungsgebiet ungefähr 10.000 Sperrvorgänge im Jahr«, erklärt Christoph Preuß von der Kölner Rheinenergie. Die Spanne reiche dabei vom Haushalt mit ernsthaften Zahlungsschwierigkeiten bis zum Akademiker-Ehepaar, das wegen mangelnder Absprache versäumt habe, seine Stromrechnung zu bezahlen. Damit sind sie eine Ausnahme, wie Michael Kopatz betont: »Energiearmut ist eine Form von Armut. Nur wenn man arm ist, können Energiekosten eine existenzielle Bedrohung werden.« Er spricht von einem »Selbstverstärkungseffekt« der Energiearmut. Wer Pro-bleme hat, Strom und Gas zu bezahlen, wohnt in der Regel in einer schlecht isolierten Wohnung mit veralteten Elektrogeräten, die viel Strom verbrauchen. Und ihm fehlt das Geld, an dieser Situation etwas zu ändern.
In Meschenich probiert die Rheinenergie gerade eine Alter-native zur Stromsperre aus. Hinter den Fassaden der be-rüchtigten Hochhäuser am Kölnberg läuft seit Ende 2013 ein in Deutschland einmaliges Pilotprojekt. Statt den Anschluss zu sperren, drosselt die Rheinergie den säumigen Kunden die Stromzufuhr auf tausend Watt. Damit können sie noch einen Kühlschrank in Betrieb -lassen, eine Lampe anknipsen und eine Herdplatte auf mittlere Hitze einschalten. Sie können aber nicht mehr gleichzeitig fernsehen oder die Waschmaschine benutzen; Föhn, Wasserkocher oder Staubsauger funktionieren gar nicht mehr.
Möglich ist diese »Lastbegrenzung« durch eine besondere Form digitaler Stromzähler, so genannter Smartmeter, die die Rheinenergie in drei Hochhäusern am Kölnberg installiert hat. Sie lassen sich so steuern, dass sie eine Last von höchstens tausend Watt zulassen. Werden in einer Wohnung zu viele elektronische Geräte eingeschaltet, springt die Sicherung heraus.
Diese Minimalversorgung hält die Rheinenergie zwei Monate lang aufrecht. Werden die Schulden in diesem Zeitraum nicht beglichen, wird der Strom komplett abgestellt. »Die Leute kommen ganz schön ins Trudeln«, sagt Karin Wettig vom Sozialdienst katholischer Frauen. Sie bietet den betroffenen Haushalten -— auch das ist Teil des Projekts — im Caritaszentrum in Meschenich eine kostenlose Energieschuldenberatung an. Sie prüft, ob sich mit der Rheinenergie eine Ratenzahlung vereinbaren lässt, nimmt das Gesamtbudget des Haushalts unter die Lupe und schickt die Leute oftmals weiter zum Jobcenter oder Sozialamt, damit sie dort ein Darlehen aufnehmen können.
»Die Idee ist an sich gut«, findet Anette Weber, die ebenfalls im Rahmen von »NRW bekämpft Energiearmut« Menschen berät, die ihre Stromrechnung nicht zahlen können, jedoch im Auftrag der Kölner Verbraucherzentrale. »Die Menschen haben dann zwei Monate Zeit, ihre Finanzen zu regeln, ohne dass ihnen gleich die Existenzgrundlage entzogen wird.« Sie hat kürzlich erlebt, wie einem Haushalt mit einem drei Wochen alten Kind die Stromsperre angekündigt wurde. »Für Familien mit Kindern, Kranke oder Schwangere muss es mehr Schutz geben«, fordert sie.
Doch das Projekt in Meschenich ist bisher nur mäßig angelaufen. Zwar wurde in 75 der insgesamt 600 Wohnungen schon die Stromzufuhr gedrosselt — gerechnet hatte die Rheinergie mit 30 bis 40. Doch von diesen 75 Haushalten haben noch nicht einmal zehn den Weg zu Karin Wettig in die Beratung gefunden. »Das mit der Lastbegrenzung ist einfach sehr schwer zu verstehen. Da springt eines Tages die Sicherung raus, und dann denken die Menschen: ›Jetzt haben sie mir doch den Strom abgestellt.‹« Zwar verschickt die Rheinenergie zusammen mit der Ankündigung der Stromreduzierung auch ein Blatt mit Beispielen, welche Geräte mit tausend Watt noch funktioneren. Doch diese Informationen reichen offenbar nicht aus. »Wer weiß schon, wie viel sein Kühlschrank verbraucht?«, sagt Wettig, und außerdem: »Hier leben so viele Migranten. Das ist oft ganz einfach ein sprachliches Problem.«
Die Zähler in Meschenich haben eine Vorgeschichte. Sie sind das Produkt eines ambitionierten Ratsbeschlusses von 2007, der niemals hundertprozentig umgesetzt wurde. Es ging um einen Sozialtarif: Sozial Schwache wie etwa Hartz-IV-Empfänger sollten nur noch die Hälfte des normalen Strompreises zahlen müssen. Der Rat forderte die Rheinenergie auf, zu prüfen, inwieweit ein solcher Schritt umsetzbar ist. »Ein Sozialtarif hätte zusätzliche Kosten von 25 Millionen Euro jährlich bedeutet«, erinnert sich Jörg Detjen von der Linkspartei, der den Prozess damals angestoßen hatte. Für die Rheinenergie sei das nicht realisierbar gewesen. »Ein Sozialtarif löst das Problem nicht. Wir sind ein Stadtwerk, nicht das Sozialamt«, sagt heute Sprecher Christoph Preuß. Ein Sozialtarif müsse immer von anderen Kunden mitbezahlt werden, zudem müsse man permanent prüfen, wer dazu berechtigt sei.
Seine Schlussfolgerung: »Die Leute müssen erkennen, welchen Wert Energie hat und weniger verbrauchen.« Als Ergebnis dessen läuft seit 2013 das Modellprojekt in Meschenich, außerdem finanziert die Rheinenergie die Energieberatungsprojekte der Caritas und der Verbraucherzentrale mit — Sozialberatung statt Sozialtarif.
Beendet ist das Thema damit noch nicht. In Belgien etwa erhält jeder Haushalt 500 Kilowattstunden Strom umsonst, erst danach wird regulär abgerechnet. In Großbritannien bekommen bedürftige Haushalte einen Preisnachlass von 15 Prozent. »Eigentlich müsste der Bundesgesetzgeber festlegen, dass jedes Unternehmen einen Sozialtarif Strom anbietet«, meint Jörg Detjen. Die Forderung liegt nahe. Schließlich sollen die Stromkosten aus dem Regelsatz der Hartz-IV-Leistungen beglichen werden, und dessen Höhe legt der Bund fest. Im Moment sind dies 360 Euro jährlich, damit kann man je nach Anbieter bis zu 1300 Kilowattstunden bezahlen. Der Verbrauch eines sparsamen Ein-Personen-Haushalts liegt aber bereits bei 1500 Kilowattstunden im Jahr.
Die Forderung nach bezahlbarem Strom vermischt sich immer wieder mit der nach einem sparsameren Umgang mit Energie. Selbst wenn es sich langfristig rechnet, einen neuen Kühlschrank mit weniger Stromverbrauch zu kaufen, ist es für die Betroffenen schwierig, auf ein Neugerät zu sparen. Im Rahmen des »Stromsparchecks« kann man einen Zuschuss von 150 Euro für einen neuen Kühlschrank erhalten, der marktübliche Preis für ein besonders A+++-Gerät beginnt jedoch bei 300 Euro. Und dann sind da ja auch noch die Heizkosten, die häufig den größeren Posten der Energiearmut ausmachen. Beim Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen beispielsweise werden die zwar vom Jobcenter übernommen, aber nicht in jeder Höhe. Das Jobcenter Köln sieht pro Wohnung 1,30 Euro pro Quadratmeter vor. »Bei Sonderfällen wie einem schlecht isolierten Altbau können diese auch höher liegen«, heißt es beim Kölner Jobcenter. Aber die Betroffenen haben kaum Chancen, Heizkosten zu senken. Weniger zu heizen, begünstigt außerdem Schimmel und Krankheiten.
Wer in einer energieeffizienten Wohnung lebt, kann sich da einerseits glücklich schätzen. Andererseits ist die »energetische Sanierung« mittlerweile zur Schreckvokabel von Mietern geworden, dient sie doch — wie bei den Adenauerhäusern in Riehl — häufig als Rechtfertigung für exorbitante Mietsteigerungen. Vermieter können 11 Prozent der Sanierungskosten permanent auf die Miete umlegen, obwohl sie eigentlich nur die Kosten für den Dämmstoff und seine Montage in Rechnung stellen dürften, so Michael Kopatz. »Der Rest ist Instandsetzung.« Der Weg dahin ist schwierig. In Köln debattieren Grüne und SPD gerade, ob die Stadt einen Zuschuss für die energetische Sanierung von Altbauwohnungen oder Wohnungen der GAG bereitstellen könnte. »Die Frage ist, wieviel Geld die Stadt da ausgeben kann«, so Gerd Brust, Ratsmitglied und Energieexperte bei den Kölner Grünen.
So lange diese Fragen offen sind, plagen sich Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger weiter mit ihren hohen Energierechnungen herum, beantragen Darlehen beim Jobcenter und stottern sie mühsam wieder ab. »Wenn ich 25 Euro im Monat an Darlehen zurückzahlen muss, heißt das, ich habe weniger Regelleistungen und das Geld fehlt an anderer Stelle. Das ist ein Rattenschwanz«, sagt Karin Wettig vom Sozialdienst katholischer Frauen. Sie findet Modellprojekte wie die Strom-sparchecker zwar hilfreich: »Ein bewussterer Umgang mit Energie ist natürlich wichtig.« Doch etwas stört sie und ihre Kollegin Karolin Balzar auch an der gesamten Diskussion um Energiearmut, die seit ein paar Jahren zum Politikum geworden ist. »Stromschulden sind oft nur ein kleiner Teil eines größeren Armutsproblems«, so Balzar. »Man greift jetzt ein Thema heraus, wo man meint: Da haben die Menschen selbst Einfluss drauf, wenn sie nur sparsam genug sind und jahrelang auf einen neuen Kühlschrank sparen.«