Im Rhythmus eines Ochsenkarrens
Weit hinein in die hügelige Landschaft blickt die Kamera. Das Licht ist diffus, es könnte früher Morgen sein, vielleicht auch später Nachmittag. Eine asphaltierte Straße zieht sich in einer S-Kurve durch das Bild; hinten rechts kommt sie aus einem Wäldchen hervor; vorne links führt sie aus dem Bild heraus. Hohes Gras säumt sie. Manchmal fährt der Wind durch die Halme, manchmal trägt er Satzfetzen mit sich. Hähne krähen, Hunde bellen, ohne dass man sie sähe. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, sein Tempo macht die Langsamkeit der Ochsenkarren bewusst, die auf der Straße unterwegs sind. Anfangs sieht man sie nur als Punkte in der Tiefe des Bildes. Sobald sie sich dem Standort der Kamera nähern, ist das Geräusch der Hufe und der Wagenräder auf dem Asphalt zu hören. Bis der letzte Wagen der Karawane nach links aus dem Bild verschwunden ist, vergehen sechs Minuten. Das Bild bleibt dann noch einmal zehn Sekunden stehen.
Diese lange, statische Einstellung bildet den Auftakt zu »Heremias« (2006), einem 540-minütigen, auf Digitalvideo gedrehten Schwarzweiß-Film von Lav Diaz. Der 1958 geborene philippinische Regisseur ist bekannt für Werke von monumentaler Länge. »Melancholia« (2008) etwa dauert 450 Minuten, »Evolution of a Filipino Family« (2004) gar 643 Minuten, also fast elf Stunden. Auf die Frage, woher die Länge rührt, hat Diaz in einem Gespräch mit der taz geantwortet: »Ich bin der Sohn eines Bauern und einer Lehrerin, und als ich in Cotabato auf der Insel Mindanao im Süden der Philippinen aufwuchs, musste ich jeden Tag zehn Kilometer zur Schule laufen und nach der Schule wieder zehn Kilometer zurück. Diese langsame Ästhetik ist Teil meiner Welterfahrung.« Die langen Einstellungen und die lange Filmdauer haben also eine materielle Grundlage, sie beruhen auf einer konkreten, aus dem Alltag gespeisten Erfahrung.
Wenn eine Gesellschaft nicht industrialisiert ist und in erster Linie von Landwirtschaft lebt, dann hat sie einen anderen Zeithorizont als eine Gesellschaft, die sich an den Takt des Fordismus gewöhnt hat, oder als eine, die diesen Takt hinter sich gelassen hat. Da Diaz’ Filme immer wieder um Klassengegensätze, Armut, politische Verfolgung und das Ausgeliefertsein derer, die von Macht und Wohlstand ausgeschlossen sind, kreisen, ist es nicht verwegen, in ihm einen Erben dessen zu sehen, was in den 60er Jahren als »Drittes Kino« firmierte, also einem Kino aus sogenannten Dritte-Welt-Ländern, das einen eigenen Weg zwischen Hollywood-Kommerz und europäischem Autorenkino suchte. Dessen Radikalität bestand darin, die Ordnung der Erzählung und, in der Erzählung, die soziale Ordnung zu zerfetzen; bei Lav Diaz liegt die Radikalität darin, dem Weg des Ochsenkarrens so lange zu folgen, bis dieser Weg an sein Ende kommt.
Im Sommer gewann er mit seinem jüngsten Werk »From What Is Before« beim Festival von Locarno den Goldenen Leoparden. Frühere Filme waren in den Programmen von Venedig und Cannes vertreten. Die große Bedeutung, die er im Weltkino eingenommen hat, steht in keinem Verhältnis zu den extrem seltenen Gelegenheiten, seine Filme im Kino zu sehen. Diaz’ Oeuvre verlangt nach einer nicht-kommerziellen Aufführpraxis, und es verlangt nach einem Publikum, das nichts dagegen hat, wenn das Verhältnis von Tagwerk und Abendvergnügen auf den Kopf gestellt wird. Umso schöner, dass der Nürnberger Verleih Grand Film das Wagnis aufnimmt, Diaz’ zweitjüngsten Film »Norte« ins Kino zu bringen – damit wird erstmals auch in Köln ein Film von Diaz gezeigt. Er dauert vergleichsweise kurze 250 Minuten, ist ausnahmsweise in Farbe gedreht und lehnt sich lose an Motive aus Dostojewskis »Verbrechen und Strafe« an.
Ein Strang des Films folgt einem jungen Mann namens Fabian, der sein Jurastudium hinschmeißt, vor seinen Freunden zynische Reden über das Ende der Geschichte hält und ständig in Geldnot ist. Der zweite Strang kreist um die Familie von Eliza und Joaquín, die in bescheidenen Verhältnissen lebt; Joaquín hat eine Verletzung am Bein, die ihn hindert zu arbeiten; der Besuch bei der Geldverleiherin gehört für die beiden zum Alltag. Die Geldverleiherin wiederum bildet das Scharnier zwischen den beiden Strängen. Als sie ermordet wird, wird Joaquín, obwohl er die Tat nicht begangen hat, zu lebenslanger Haft verurteilt.
Gefilmt ist das oft aus der Distanz und mit ruhigen, langsam schwenkenden Bewegungen; die Kamera wird von Lauro Rene Manda geführt. »Norte« verliert diese Ruhe auch dann nicht, wenn sich die Ereignisse zuspitzen. Der Rhythmus, in dem die kontemplativeren Sequenzen von einzelnen handlungsreichen Szenen durchbrochen werden, ist virtuos gesetzt. Damit nähert sich Diaz dem, was der Regisseur und Drehbuchautor Paul Schrader in seinem berühmten Essay über den transzendentalen Stil im Kino einmal als »Stasis« beschrieben hat. Wenn Konflikte zu hart erscheinen, als dass sie gelöst werden könnten, stellt das Filmemacher vor dramaturgische Probleme. Sie können dann entweder den Ausweg des Happy Ends wählen, zahlen dafür aber den Preis billiger Beschwichtigung, oder aber sie neigen dazu, dem Publikum das Elend der Figuren aufzudrängen.
»Stasis« beschreibt etwas, was jenseits dieser beiden unseligen Optionen liegt: den Versuch, nicht zu lösende Konflikte ohne falsche Besänftigungen zu verhandeln. Diaz gelingt dies zum Beispiel, weil er viele Einstellungen von narrativen Funktionen befreit. Dann sieht man Ziegen am Wegrand oder den Schattenwurf von zum Trocknen aufgehängter Wäsche auf einer Gefängniswand.