Alles ist Kontinuität
Neben Talent und genialer Inspiration verdankt Lubomyr Melnyk seine späte Karriere dem großen Glück, dass die Relevanz seiner Musik für die Modern-Classic- und Ambientszene von Kultlabel Erased Tapes erkannt wurde. Melnyk ist studierter Philosoph und Pianist aus der Ukraine. Sein Lebensthema ist die »Continuous Music«, über die er 1981 die Promotion »Open Time: The Art of Continuous Music« schrieb. Er arbeitet an einer sphärischen, fließenden Klaviermusik, die aus ununterbrochenem Spiel von Läufen und besonderem Einsatz von Pedal resultiert. Der meditative Klangfluß setzt sich aus unzählig vielen Tönen unterschiedlicher Anschlagdynamik zusammen — es fällt schwer, zu glauben, dass nur ein Spieler am Klavier sitzt. Was schon andeutet, wie viel Physis und Spieltechnik Melnyks Spiel verlangt.
Herr Melnyk, Sie sind häufig in der Stadt und ihr Auftritt im Januar wird nicht der letzte gewesen sein. Wie kommt es zu dieser Verbindung mit Köln?
Durch das Ambientfestival von Dietmar Saxler kam ich 2012 zum ersten Mal nach Köln, »Zivilisation der Liebe« ist besonders wichtig für mich, denn erst durch dieses Festival wurde meine Arbeit einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dort bin ich Peter Broderick begegnet. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal in die Kirche St. Aposteln kam. Die Architektur, das Lichtspiel und dazu die Musik —das war eine sehr kraftvolle Erfahrung für mich.
War es Ihr erstes Mal bei »Zivilisation der Liebe«, als Sie Peter Broderick begegneten?
Ja, es war mein erstes Jahr auf dem Festival.
Was machte das Treffen mit Broderick denn so besonders?
Naja, dadurch begann meine Verbindung zu Erased Tapes, und die Aufnahmen (Anmerkung: 2012 kam es auf dem Festival zu spontanen Aufnahmen in St. Aposteln, für die sich Broderick mit Melnyk verabredete.) brachten meiner Musik erstmals eine größere Zuhörerschaft. Zu dem Zeitpunkt war ich noch recht unbekannt.
War Ihr Leben vor der Zusammenarbeit mit Erased Tapes denn sehr zurückgezogen und ruhig? Haben Sie vorher nicht allzu viele Konzerte gespielt?
Ja, so war es. Ich hab die meiste Zeit mit Komposition verbracht. Ich hab versucht, mich in der klassischen Konzertwelt zu etablieren — von der heutigen Ambientszene wusste ich gar nichts.
Wie war Ihr Leben mit der Klassikwelt?
Meine Musik ist in der Klassik verankert, da hoffte ich auf Respekt und Verständnis für meine Arbeit.
Sind Sie von der Szene enttäuscht?
Ganz fürchterlich enttäuscht. Mozart, Beethoven und Bach wären auch enttäuscht. Ich glaube, die würden heute ignoriert werden. Bach wurde schon zu Lebzeiten ignoriert — er hatte keine große Karriere. Das liegt natürlich weit zurück. Aber seit 1900 werden Komponisten und Pianisten wahrgenommen. Daher hat es mich schon sehr erstaunt, dass meine Musik in der Klassikwelt von Heute gar nicht vorkommt. Aber umso sehr freut es mich, zu sehen, wieviele junge Menschen moderne Formen von Klassik und continuous music hören.
Diese Szene ist in den letzten zehn Jahren gewaltig gewachsen. Auch als eine ästhetische Reaktion auf die hektischen Umstände, mit denen wir alle zurecht kommen müssen.
Ja, das scheint mir richtig. Ich kenne Ambient noch aus der Hippiezeit — und solange genieße ich diese Musik schon. Damals war Ambient schon einmal sehr populär. Junge Menschen floaten gerne mit Musik.
Wie fühlt es sich an, es nach einem langen, einsamen Musikleben auf eines der hippesten Labels zu schaffen, die die Modern Classic Szene zu bieten hat? Späte Gnade oder Kulturschock?
Mir bereitet es Freude, wenn die Musik zu Menschen sprechen darf, weshalb ich mich sehr über mein wachsendes Publikum freue. Ich hab das Gefühl, daß Menschen hier näher an der Musik sind. In Japan beispielsweise nehmen die Menschen den Pianisten und dessen Technik wahr. In Europa nimmt das Publikum nur die Musik war, verbindet das musikalische Ergebnis aber nicht mit der instrumentalen Exzellenz.
Wer ohne Klavierkenntnis eines Ihrer Konzerte hört, der wird nicht wissen können, welche Fingerfertigkeit Ihr Spiel verlangt — und trotzdem kann ihn die Musik wegfegen.
Aber ich finde, Menschen brauchen etwas mehr musikalische Bildung, um die Musiker schätzen zu können. Die Menschen verlassen sich etwas zu sehr auf die Musik. Man bekommt den Eindruck, man könne eine Maschine spielen lassen. Aber es macht einen Unterschied: die musikalische Exzellenz des spielenden Menschen macht den Unterschied.
Und da gibt es noch etwas, was für die Ambientmusik wichtig ist: Wir brauchen diese Musik auch unabhängig von Strom. Sollte es eines Tages keine Ressourcen mehr geben, dann müssen wir in der Lage sein, Ambient ohne Elektronik zu erzeugen. Mit unseren zehn Fingern.
Ist der Computer als Instrument für Sie akzeptabel?
Natürlich. Es muss nur egal sein, ob da Strom und Internet ist. Viele junge Musiker sind vom Strom und von ihren Geräten abhängig. Musikalität muss darüber hinausweisen — Musiker müssen in der Lage sein, instrumentale Fähigkeiten zu erlangen und unabhängig von Maschinen zu musizieren.
Text und Interview: Sonia Güttler
Im Dezember erschienen: Lubomyr Melnyk »Evertina« (Erased Tapes)
StadtRevue präsentiert:
10. Ambientfestival »Zivilisation der Liebe«, 22.1.–25.1., St.Aposteln
Lubomyr Melnyk spielt am 25.1. um 16 Uhr
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