Im Krisengebiet
Die Angst bleibt
An einem Samstagabend im November geht Haben Berhe über den Flur in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in der Vorgebirgstraße. Haben Berhe kommt aus Eritrea, ist 19 Jahre alt, eine zierliche junge Frau, man könnte sie auch für 15 halten. Als sie auf dem Flur einem neuen Bewohner begegnet, fängt sie an zu schwitzen. Sie kennt diesen Blick, sie hat erlebt, was folgt, wenn Männer diesen Blick aufsetzen. Haben Berhe ist in einem Flüchtlingslager an der Grenze zu Äthiopien aufgewachsen. Dort wurde eine Bekannte von ihr vergewaltigt, und nachdem sie den Mann angezeigt hatte, lachten die anderen im Lager und wollten nichts mehr von ihr wissen. Als Haben Berhe dann mit 16 selbst vergewaltigt wurde, sagte sie lieber nichts. Nicht mal den Eltern. Als die Eltern sie verheiraten wollten, geriet Haben in Panik, sie war ja keine Jungfrau mehr. Sie rief ihren Onkel in Kanada an und bettelte, damit er ihr Geld schickte. Sie wollte nach Europa. Im Juni dieses Jahres brach sie gemeinsam mit zwei anderen Frauen in den Sudan auf, von da aus ging es nach Libyen und mit dem Boot nach Sizilien. Die anderen Frauen kamen dort nie an. Sie waren in ein anderes Boot gestiegen. Haben eilte weiter, mal im Zug, mal im Auto, mal zu Fuß. Am 25. Oktober setzte sie ein Schleuser in Köln ab, dort wurde sie von der Ausländerbehörde als »unerlaubt eingereiste Person« registriert und in das Heim in der Vorgebirgstraße gebracht. Nach der Begegnung auf dem Flur macht Haben sofort kehrt und schließt sich in ihr Zimmer ein, das sie mit einer älteren Dame aus Serbien teilt. Doch die muss irgendwann zur Toilette. Haben hat Angst, allein zu bleiben und begleitet die Frau über den Flur zu den Toilettenkabinen. Während Haben auf ihre Mitbewohnerin wartet, taucht plötzlich der Mann wieder auf, er packt sie am Hals und drückt sie gegen die Wand. Haben schreit, ihre Mitbewohnerin kommt aus der Kabine, auch sie schreit, umklammert den Mann von hinten, der wendet sich um und verdreht ihr den Arm. Bald laufen andere Bewohner hinzu, der Mann lässt von Haben ab, Wachmänner eilen herbei. Trotz der Attacke bleibt der Mann in der folgenden Nacht im Wohnheim. Am nächsten Morgen gelingt es ihm sogar, ins Zimmer von Haben zu gelangen. Wieder schafft die ältere Dame es, ihn zu vertreiben. Erst danach wird er aus dem Heim gebracht.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine Frau in einem Kölner Flüchtlingsheim von einem anderen Bewohner angegriffen wurde. Anfang 2014 berichteten zwei Frauen von sexuellen Übergriffen in der Notaufnahmeeinrichtung in der Herkulesstraße, auch hier fanden die Übergriffe in den Waschräumen statt. »Die Situation in den Flüchtlingsunterkünften fördert Gewalt an Frauen«, sagt Shewa Sium vom autonomen Frauenverein Agisra. Die Erstaufnahmeeinrichtung an der Herkulesstraße ist mit 686 Bewohnern völlig überbelegt. Es gibt keine abgeschlossenen Wohneinheiten; die Flüchtlinge schlafen in Vierbettzimmern und teilen sich Duschen und Toiletten. Die sind zwar nach Geschlechtern getrennt, doch nur die Kabinen sind abschließbar, die Räume selbst nicht. In einigen Fällen teilen sich Männer und Frauen die Waschbecken, auch soll es Löcher in den Wänden der Duschkabinen geben. Nicht jedem ist hierzulande klar, wie wichtig ein abgeschlossener Bereich für Frauen in Flüchtlingswohnheimen ist. »Viele geflohene Frauen haben in ihrer Heimat oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlebt«, sagt Shewa Sium von Agisra. »Sie trauen sich nachts nicht zur Toilette. Duschen gehen sie, wenn überhaupt, nur zu mehreren.«.
Im April 2014 wiesen sie und ihre Kolleginnen von Agisra Mitarbeiter des Wohnungsamts und des Deutschen Roten Kreuzes, das die Notaufnahmeeinrichtungen betreut, auf diese Problematik hin. Daraufhin wurde im Mai ein Flügel in der Herkulesstraße ausschließlich mit alleinreisenden Frauen und ihren Kindern belegt. Doch die Toiletten und Waschräume befinden sich außerhalb des Flurs — die Duschen sogar eine Etage höher. »Die Situation für die Frauen ist also weitestgehend gleich geblieben«, so Sium. An diesem Zustand wird sich in der Herkulesstraße so schnell nichts ändern. »Aus baulichen Gründen war keine andere Platzierung der Sanitäranlagen möglich«, so Martin Dommer, Sprecher des Sozialdezernats. Der Frauenflur liege jedoch direkt gegenüber einem Büro des Sicherheitsdienstes, »um auf diese Weise das höchstmögliche Maß an Sicherheit zu gewährleisten.« Die Adlerwache habe auch Mitarbeiterinnen im Einsatz, nicht nur Männer. Außerdem soll das Wohnheim am Severinswall nach und nach in eine Unterkunft für 100 bis 120 alleinreisende Frauen und ihre Kinder umgewandelt werden. »Die Umstellung wird voraussichtlich in 6 bis 9 Monaten vollzogen sein.«
Spezielle Einrichtungen für Frauen zu schaffen, mag für die Stadt zurzeit nicht die höchste Priorität haben. Schließlich tun sich die Mitarbeiter des Wohnungsamts schwer damit, den Flüchtlingen überhaupt noch ein Dach über dem Kopf zu bieten. Ende 2014 kamen zum Teil 300 Flüchtlinge in nur einer Woche in Köln an. Das Wohnungsamt beschlagnahmte eine Schulturnhalle in Weiden und ließ dort 200 Feldbetten aufstellen. Im Januar sollen 200 Flüchtlinge in einen leer stehenden Baumarkt im Porzer Gewerbegebiet ziehen, seit November ist außerdem die städtische Notschlafstelle an der Boltensternstraße, die für Katastrophenfälle vorgehalten wird, mit Flüchtlingen belegt. In Weiden und Porz gibt es nicht einmal abgeteilte Räume; an Privatsphäre ist nicht zu denken. »Die Situation in den Sammelunterkünften ist für die Flüchtlinge extrem belastend«, sagt Brigitte Brand-Wilhelmy, Leiterin des Therapiezentrums für Folteropfer. Die von der Caritas getragene Einrichtung bietet seit 1985 Flüchtlingsberatung in Kombination mit psychotherapeutischer Behandlung an. »Wir schätzen, dass vierzig Prozent aller Flüchtlinge schwer traumatisiert sind.« Brand-Wilhelmy zählt die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auf: Übererregtheit, Schreckhaftigkeit, Schlaflosigkeit und eine ausgeprägte Angstsymptomatik. Menschliche Nähe können viele der Betroffenen nur schwer aushalten. Bei Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, komme häufig noch etwas anderes hinzu: »Viele haben Unterleibsbeschwerden. Wenn sie schwanger sind, erleiden sie häufig eine Fehlgeburt.«
Behandeln können Brand-Wilhelmy und ihre Kollegen nur einen Bruchteil aller traumatisierten Flüchtlinge. In Köln müssten mehr als 2000 Flüchtlinge in Behandlung sein, therapeutisch versorgt wurden im Jahr 2013 aber nur 416. Dass niedergelassene Psychotherapeuten Flüchtlinge behandeln, ist so gut wie unmöglich, weil die kassenärztliche Vereinigung sich weigert, Kosten für Dolmetscher zu übernehmen. Das Therapiezentrum für Folteropfer kratzt das Geld für seine Dolmetscher Jahr für Jahr mühsam von verschiedenen Stiftungen zusammen, viele arbeiten auch ehrenamtlich. Sogar die Psychotherapeuten-Stellen beim Therapiezentrum für Folteropfer sind projektfinanziert; die Mitarbeiter hangeln sich von Jahr zu Jahr. Da im Februar eine EU-Finanzierung ausläuft, fallen von den dreieinhalb Therapeutenstellen anderthalb vorerst weg. Gleichzeitig steigt die Zahl der Anfragen so stark an, dass die Menschen bis zu einem halben Jahr auf einen Termin beim Therapiezentrum für Folteropfer warten mussten. Bis Anfang Dezember hatten die Mitarbeiter deshalb einen Aufnahmestopp verhängt, behandelt werden insbesondere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und besonders schwere Fälle. »Das sind Menschen, die in deutschen Psychatrien kaum Aufnahme finden. Oft fehlen interkulturelle Kompetenzen, sprachliche Barrieren sind ein weiteres Hindernis.«
Wenn die traumatisierten Flüchtlinge nicht beraten und behandelt werden, ergibt sich noch ein weiteres Problem. In der Anhörung im Asylverfahren sagen sie häufig nicht, dass sie gefoltert oder vergewaltigt worden sind. Sie blenden aus, was geschehen ist, werden möglicherweise nur deshalb nicht als Flüchtling anerkannt und im schlimmsten Fall abgeschoben. »Das als Therapeut im Nachhinein nachzuweisen, ist ein hoher Aufwand und häufig gar nicht mehr möglich«, so Brand-Wilhelmy.
Immerhin wächst die Hilfsbereitschaft von privater und kirchlicher Seite. Seit 2011 ist in den Räumen des Therapiezentrums für Folteropfer das »Auszugsmanagement« angesiedelt. Gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat und dem Deutschen Roten Kreuz versucht eine Mitarbeiterin der Caritas, Flüchtlinge aus Sammelunterkünften in Wohnungen zu vermitteln. Offenbar muss man die Verantwortlichen erst daran erinnern, dass Flüchtlinge nicht zwingend in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden müssen. Wenn sie in normalen Wohnungen leben, ist das nicht nur besser für die Flüchtlinge, sondern es kostet die Stadt auch nicht einmal halb so viel Geld. Trotzdem lief das Auszugsmanagement in der Vergangenheit eher schleppend. Seit einigen Wochen jedoch kommen — nicht zuletzt seit einem Aufruf des neuen Kölner Erzbischofs Rainer Maria Woelki — wöchentlich neue Wohnungsangebote, vor allem von Pfarrgemeinden. Auch die Antoniter, Aachener und Lindenthaler Wohnungsgesellschaften sind nun auf die Mitarbeiterin des Auszugsmanagement zugekommen. Die Kölner Ratsfraktionen von SPD, CDU, Grünen und Linken haben Ende November zum Teil im Stundentakt Pressekonferenzen zum Thema gegeben; die GAG hat angekündigt, in den nächsten Jahren Wohnungen für Flüchtlinge zu bauen. An Vorschlägen und Willensbekundungen mangelt es also nicht. Doch die angebotenen Wohnungen können zurzeit nicht annähernd mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen Schritt halten. Die Mehrheit wird in Massenunterkünften wohnen müssen, bald auch häufiger in Gewerbegebieten.
Auch Haben Berhe ist noch weit davon entfernt, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Sie wäre schon froh, wenn sie nicht mehr mit alleinstehenden Männern in einem Haus wohnen müsste. Der Angreifer ist fort, sie hat bei der Polizei Anzeige gegen ihn erstattet. Nachts schlafen kann sie deshalb aber noch lange nicht. Sie, die hier Schutz gesucht hat, traut sich im Dunkeln nicht allein hinaus. Selbst in ihrem eigenen Zimmer fühlt sie sich nicht sicher. Doch dagegen kann sie keine Anzeige erstatten.