Free love messes up our life
T.C. Boyle ist mittlerweile 55 und trägt noch immer Jeans und Turnschuhe, Totenkopfring und Bikerbart. Eine lebende Ikone der amerikanischen Gegenkultur, könnte man denken. Doch so einfach ist das nicht. Boyles neuer Roman »Drop City« spielt im Jahr 1970. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht eine unsympathische Hippiekommune: ein Haufen willensschwacher, orientierungsloser, stets breiter Menschen, die LSD an 3-jährige verfüttern und den Unterschied zwischen Vergewaltigung und freier Liebe nur vage ahnen. Als die kalifornische Polizei anrückt, siedelt die Kommune nach Alaska über, wo, wie könnte es anders sein, die wahren Hippies wohnen: Beinharte Trapper, für die »Zurück zur Natur« kein verlogener Modeslogan, sondern kalter, wahrer Alltag ist.
StadtRevue: Sie waren selbst ein Hippie?
T.C. Boyle: Oh yeah! Gehen sie zu tcboyle.com, da gibt es ein Bild von mir mit einem riesigen Afro.
Haben Sie auch in einer Kommune gelebt?
Nein, aber ich habe recherchiert, unter anderem las ich Richard Fairfields »Communes. USA« von 1966. Fairfield lebte in einer Kommune und besuchte andere, quer durch die USA.
Und freie Liebe, hat Sie das je fasziniert?
Natürlich! Aber man muss für alles bezahlen.
Schon im 19. Jahrhundert gab es in den USA Kommunen, in denen freie Liebe praktiziert wurde. Von ihnen waren wiederum die russischen Kommunisten fasziniert, z.B. die Oneida-Kommune von John Noyes. Allerdings durften Männer dort nicht ejakulieren.
Mein Freund, Robert Fogarty, Redakteur der Antioch Review, hat ein Buch darüber gemacht. Er fand ein Tagebuch von einer Frau, die in Oneida gelebt hat und sehr offen über Sex schreibt. Ich bekam das Buch erst, nachdem Drop City fertig war.
Glauben sie, dass die Hippies etwas von diesen Vorgängern wussten?
Ich bezweifele das sehr, wir waren sehr unhistorisch. Die Hippies glaubten, wie jede Generation, dass sie den Sex erfunden hätten. Vorgänger? Konnte es nicht geben!
Warum schreiben sie heute über Hippies?
Mein letzter Roman »Ein Freund der Erde« spielte im Jahr 2025 und drehte sich um Umweltzerstörung. »Drop City« ist der zweite Teil, in dem ich herausfinden wollte, wie es war, bevor es zu spät war, in einer Zeit, in der das Umweltbewusstsein entstand. Wir hatten keine Grüne Partei. Der erste Earth Day war 1970 im letzten Jahr des Homestead. Das heißt, man konnte etwa in Alaska einen See oder irgendein Stück Land finden und es in Besitz nehmen, wie die Pioniere.
Es gab für Sie keinen aktuellen politischen Bezug?
Nein, ich will nicht nostalgisch sein oder diese Epoche besonders kritisieren. Obwohl die Hippie-Ethik sehr sexistisch war, auch wenn die Frauenbewegung aus ihr hervor ging. In »Drop City« sagt Alfredo: »Ich war in vielen Kommunen, die nicht funktioniert haben, weil die Chicks nicht tun, was sie sollen: Sich hinlegen, die Beine breit machen und dann spülen und kochen.« Das ist fast ein Zitat von einem Typen aus »Communes. USA«. Es gab diesen unbewussten Sexismus und Rassismus.
Die Antikriegsbewegung spielt keine wichtige Rolle in Ihrem Buch ...
Sie wird erwähnt, aber ich wollte kein soziologisches Traktat über die Ära schreiben. Eins ist allerdings traurig-ironisch: Als ich letzten Winter mit dem Buch durch Amerika tourte, bereitete Mr. Bush gerade seinen Krieg vor. Also kamen jeden Abend viele Leute, die an Antikriegsprotesten teilgenommen hatten. Die Epoche, über die ich schrieb, ist in gewisser Weise zurück.
Glauben sie, dass die Erfahrungen der Antikriegsbewegung heute nützlich sein können?
Ich denke schon. Leute wie ich, die sich sehr deutlich gegen den Krieg ausgesprochen haben, waren damals dabei und haben jetzt jüngere Leute beeinflusst. Also – ja. Aber wir waren nicht sehr erfolgreich. (lacht) Es ging alles so schnell. Wie damals: Der Krieg dauerte viele Jahre, bevor die Bewegung stärker wurde und die amerikanische Öffentlichkeit sich über den Krieg empörte, bevor mehr Leute gegen den Krieg waren, als dafür.
Was ist wichtig für Sie an der Hippie-Kultur?
Alle Figuren im Buch repräsentieren einen Teil von mir, aber Ronnie ist mir am ähnlichsten. Ich bin natürlich kein übler Typ, wie er. (lacht) Aber ich war damals zu jung, um die Zusammenhänge zu verstehen. Mir ging es nur um die Mode, die Musik, die Literatur, high sein, rumvögeln. Die Gesellschaft zerstören, die ich hasste. Mein Horizont reichte nicht weiter. Ich wusste nicht, was ich tat. Es war aber wahrscheinlich die gewalttätigste, turbulenteste Phase in der amerikanischen Geschichte, abgesehen vom Zweiten Weltkrieg. Es war furchtbar. Attentate, Anschläge, Brandstiftungen – jahrelang jeden Tag. Als ich aufwuchs dachte ich, das wäre normal.
Solche politischen Katastrophen hätten in »Drop Cities« stärker thematisiert werden können. Dann würde man besser verstehen, was die Hippies antrieb.
Ja, ich stelle die Zeit nicht vor, stecke den Leser in die Mitte eines Dramas, der Kontext ist im Hintergrund. Ich bin davon ausgegangen, dass das alles bekannt ist. Ich erwähne ein paar Dinge, aber hauptsächlich ging es mir um das »Zurück zur Natur«. Übrigens: In Alaska ist bis heute jeder ein Hippie.
Gibt es da noch freie Liebe?
Keine Ahnung.
Kennen Sie den Bong Water-Song: »Free Love messes up my life«?
Nein. Free Love messes up my life?
Sie haben offenbar auch irgendwann damit aufgehört.
Woher wollen Sie das wissen?
Sie sehen zu gesund aus.
Ach so, freie Liebe zermürbt? (lacht) Nun, das sehe ich genauso. Aber jeder muss das selber wissen. Auf jeden Fall kann freie Liebe die Eifersucht und Unzufriedenheit zum Gären bringen. Ich frage mich, ob wir uns davon durch Ermächtigung oder Intelligenz frei machen können. Ein Ergebnis der Hippie-Bewegung war die Befreiung von den Fesseln, die Heirat und Ehe bedeuten, das hat eine ganze Generation beschädigt. Es gibt so viele kaputte Familien in der amerikanischen Mittelklasse, so viele Kinder ohne Väter. Oder Lyndon Johnsons Sozialstaat mit verheerenden Folgen für die afroamerikanische Kultur. Vieles davon kommt aus der Hippie-Ära: Junge Afroamerikaner können viele Freundinnen und Babys haben. Je mehr Babys, umso mehr Geld bekommen sie vom Staat. Aber sie haben keine Verantwortung. Das ist freie Liebe, die die Gesellschaft teuer zu stehen kommt. Emotional und finanziell.
Jetzt klingen sie sehr wie Michel Houellebecq, der in »Elementarteilchen« zwei total gestörte Brüder ihre Hippiemutter für ihr Elend verantwortlich machen lässt.
Ich habe über ihn, aber noch nichts von ihm gelesen. Aber das klingt interessant.
Werden sie als konservativer Autor diskutiert in Amerika, mit ihren Ansichten zu Natur und freier Liebe?
Die amerikanische Presse vermeidet es, Schriftstellern politische Labels zu geben. Aber das wäre interessant zu wissen. Ich gelte als eine Art Radikaler – für mein Gesamtwerk. Man hält das für extrem, aber ob das politisch liberal oder konservativ ist? Ich weiß nicht. Ich würde hoffen, dass man es für liberal oder radikal hält. Da liegen meine politischen Überzeugungen. Aber ich denke, Politik hat keinen Platz in der Literatur.
T.C. Boyle: Drop City. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser Verlag, München 2003,
528 S., 24,90 Euro
Tom Coraghessan Boyle,
geboren 1948 in Peekshill, N.Y., war aktiv in der Protestbewegung der 60er Jahre, promovierte 1977 über Englische Literatur im 19. Jahrhundert und veröffentlichte zunächst Kurzgeschichten in Magazinen von »Esquire« über »Playboy« bis zu »The New Yorker«. Heute lebt der Faulkner-Preisträger mit seiner Frau und drei Kindern in Kalifornien und unterrichtet an der University of Southern California das Fach »Creative Writing«. Er hat 15 Bücher veröffentlicht, zuletzt die Romane »América« (1996), »Riven Rock« (1998), »Ein Freund der Erde« (2001).