Der Schutz des gefährdeten Lebens
Im Mai 1936 wurde der Fall der 21-jährigen Berta R. vor dem Kölner Erbgesundheitsgericht verhandelt. Auf Initiative von Karl Coerper, dem Leiter des städtischen Gesundheitsamtes, sollte das Gericht entscheiden, ob ihr »angeborener Schwachsinn« bescheinigt werden könne. Nach einem »Intelligenztest« bejahte das Gericht diese Frage; ein später vorgelegtes Schulzeugnis und die Proteste ihres Ehemanns konnten an dem Urteil nichts ändern. Berta R. wurde im April 1937 von der Polizei in die Kölner Frauenklinik gebracht und dort zwangsweise unfruchtbar gemacht.
Erst 17 Jahre alt war Sophie K., als sie nach einem ähnlichen Urteil 1935 im Evangelischen Krankenhaus Weyertal zwangssterilisiert wurde. Im ärztlichen Bericht heißt es: »Der Eingriff verlief regelrecht. Die Wunde heilte in 10 Tagen ohne Nebenerscheinungen«.
Grundlage für diese schweren Eingriffe war das so genannte Erbgesundheitsgesetz, das vor 70 Jahren, am 1. Januar 1934, in Kraft trat. Die Nationalsozialisten hatten es sowohl wirtschaftlich als auch »erbbiologisch« begründet: So genannte Erbkranke würden der Gemeinschaft zusätzliche Kosten aufbürden und seien außerdem »rassenhygienisch« schädlich für das deutsche Volk. Im Interesse des »Gemeinwohls« müssten sie deshalb unfruchtbar gemacht werden. Als Erbkrankheiten galten unter anderem Schizophrenie, erbliche Blindheit und Taubheit. Über 4.000 Menschen wurden in Köln auf Grundlage des Gesetzes zwangssterilisiert.
Zwangsweiser Ruhestand für den Verweigerer
Der Mediziner Franz Vonessen war von 1925 an Stadtarzt am Kölner Gesundheitsamt. Es hätte unter den Nazis zu seinen Aufgaben gehört, die gesetzlich geforderten Zwangssterilisationen zu beantragen. Aber Vonessen hatte sich als Arzt gerade für Schwache und psychisch Kranke eingesetzt. Der gläubige Katholik schloss sich den Stimmen in seiner Kirche an, die das Gesetz ablehnten – und verweigerte als einziger Amtsarzt in Köln jede Mitwirkung an den Eingriffen. 1935 wurde Franz Vonessen von der nationalsozialistischen Kölner Stadtverwaltung zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
»Das gefährdete Leben« heißt das Buch, in dem der Kölner Theologe und Historiker Klaus Schmidt die Biografie des Arztes Franz Vonessen erzählt und gleichzeitig eine gut verständliche Einführung in die Gesundheits- und »Rassenhygiene«-Politik der Nationalsozialisten in Köln und ganz Deutschland bietet. Zum »makaberen Jubiläum dieses fürchterlichen Gesetzes«, so Schmidt, habe er an die oft vergessene Opfergruppe der psychisch Kranken und Behinderten erinnern wollen. Die Zwangssterilisierungen und auch die Ermordung von so genanntem »lebensunwertem Leben« seien lange Zeit nicht als nationalsozialistisches Unrecht wahr genommen worden.
Dass es auch heute noch schwierig ist, die Verantwortlichen für diese Verbrechen zu nennen, zeigt ein Umstand, den Schmidt »fast einen Skandal« nennt – und der konkreter Auslöser für den pensionierten evangelischen Pfarrer war, das Buch über den Arzt Franz Vonessen zu schreiben: Das Evangelische Krankenhaus Weyertal, in dem 262 Männer und 273 Frauen zwangsweise unfruchtbar gemacht wurden, hat sich bis heute nicht zu einem »sichtbaren Zeichen des Gedenkens«, so Schmidt, entscheiden können: »Nachdem das Krankenhaus während seines hundertsten Jubiläums 2002 pflichtschuldig seine Betroffenheit zu Protokoll gegeben hatte, wurde es sehr still.«
Ein perfektionistisches Menschenbild
Im Kölner Gesundheitsamt erinnert seit 1997 eine Tafel an die Opfer – und an die Verantwortung der Behörde selbst. Bevor man im Evangelischen Krankenhaus eine solch »weit reichende Entscheidung« treffe, sagt Hans-Gerd Bieler, Vorsitzender des Evangelischen Krankenhausvereins, »würden wir gerne mehr über die genauen Verantwortlichkeiten« wissen. An den Zwangssterilisationen seien schließlich »nicht nur Ärzte« beteiligt gewesen. Zurzeit suche das Krankenhaus deshalb nach einem Historiker, der die Vorgänge genau untersuchen soll. Außerdem, so Bieler, erinnere bereits ein Kreuz in der Kapelle der Krankenhausseelsorge an die Opfer.
Klaus Schmidt ist das viel zu wenig. Er will, dass das Krankenhaus als Institution der Opfer gedenkt. Darüber hinaus sei die Erinnerung an das »gefährdete Leben« in der NS-Zeit auch für heute wichtig: »Jede platte Parallele verbietet sich natürlich«, sagt Schmidt. Aber auch in aktuellen gesundheitspolitischen Debatten drohe »die Abwertung des beschädigten Lebens, und ein Menschenbild, das auf Perfektionismus ausgerichtet ist.«
Schmidt stellt in seiner Biografie die Frage, warum Franz Vonessen sich nicht selbst an der öffentlicher Aufarbeitung des Umgangs mit »Erbkranken« beteiligt hat. 1945 machte die amerikanische Militärregierung ihn zum Leiter des Kölner Gesundheitsamtes, für das er bis zu seiner Pensionierung 1957 verantwortlich war. Doch zu den Zwangssterilisationen äußerte er sich nicht. Damit fügte sich Vonessen in das allgemeine Beschweigen der NS-Zeit in den 50er Jahren. Innerhalb der Familie habe er sich aber vorgeworfen, zu wenig für verfolgte Juden getan zu haben, sagt Schmidt, obwohl er gelegentlich mit freundlichen Attesten helfen konnte. »Er hat mehr getan als geschätzte 95 Prozent der Kölnerinnen und Kölner.«
Klaus Schmidt: Das gefährdete Leben. Der Kölner Arzt und Gesundheitspolitiker Franz Vonessen (1892-1970). Greven Verlag, Köln 2004, 214 S., 19,90 €.