Leiden an Deutschland
28. April 2004: Wir hatten uns in einem Wohnzimmer in der Kölner Südstadt versammelt, um den Tag gemütlich mit der Live-Übertragung eines harmlosen »Testspiels« der Nationalmannschaft ausklingen zu lassen. Doch es kam anders. Denn »Rumänien wischte mit Deutschland den Boden« (Onlinesport). Egal, ob das 5:1-Debakel nun ein zentrales Ereignis oder nur eine Fußnote sein wird in der Geschichte der neuen, verjüngten deutschen Mannschaft, eines machte dieser Abend noch einmal deutlich: Der deutsche Fußball-Fan als kollektive Persönlichkeit, er bleibt ein faustisch’ Wesen: Irgendwie will er seine Jungs siegen sehen, aber irgendwie verspürt er auch ein Bedürfnis nach Distanz, sobald sie nicht so spielen wie sie sollten – aber jammern und die Mannschaft noch verteidigen, das überlässt man den Mediterranen und Südamerikanern. Man verlegt sich auf das, was aus den Lehren der vaterlandslosesten Gesellen der Philosophiegeschichte in heutigen Alltagsrepertoires hängen geblieben ist: stoische Gleichgültigkeit und kynische Verachtung. So dann auch in besagtem Südstadt-Wohnzimmer. Einige erschrockene Gesichter, aber noch mehr Gelächter: Wie hoch wird Malta uns erst schlagen? Werden wir es in Portugal schaffen, vor Lettland zu landen? Und schließlich die erschreckende Beobachtung, dass auch tief in einem selbst die Farben der Belustigung anfingen, das Grau der Enttäuschung aufzuhellen.
Spurensuche
Semiotisch lässt sich aus Fußball immer mehr herausholen als nur Aussagen über das Spiel und seine Praxis. Und natürlich wäre das Thema nationales Fußball-Fantum eine historische Betrachtung wert. Vielleicht kommt man dem Phänomen aber auch auf die Spur, wenn man bis zu den Urszenen der eigenen Fußballbegeisterung zurückgeht.
Die Spurensuche beginnt am 29. April 1978, dem letzten Spieltag der Bundesligasaison 1977/78. In einem Dorf 25 Kilometer südwestlich von Köln hat man kaum eine andere Wahl als FC-Fan zu sein. In manchen Familien wird die fanatische Begeisterung für Rot-Weiß bis heute vererbt. Die Bayern- und Gladbach-Fans bildeten damals eine Minderheit, Anhänger anderer Vereine existierten quasi nicht. An diesem letzten Samstag im April lagen der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach punktgleich auf den ersten Plätzen der Tabelle, aber der FC hatte das bessere Torverhältnis. Der Rest ist Geschichte: Entfesselte Gladbacher Fohlen fegen den Dortmunder BVB mit 12:0 vom Platz, der FC sichert sich durch ein glückliches 5:0 über St. Pauli dennoch die Meisterschale. Woran es gelegen hat, dass ich Gladbach-Fan wurde? Vielleicht lag es an den schönen Vereinsfarben, vielleicht an der Identifikation mit dem Flügelflitzer Calle Del Haye, vielleicht hatte ich unbewusst auch schon ein paar Borussia-Mythen aus der Netzer-Wimmer-Epoche aufgeschnappt. Fest steht, es war jener Nachmittag, an dem ich erstmals nur noch ein Bedürfnis kannte: »meine« Mannschaft gegenüber den zwar glücklichen, aber erbosten FC-Freunden als die beste aller Mannschaften zu verteidigen – und gegen alle Vorwürfe, das Spiel sei gekauft gewesen. Gegen meine Vernunft, letztendlich.
Eine Frage des Glaubens
Einige Monate später begann die WM in Argentinien. Für alle, die zum ersten Mal ein großes Turnier erlebten, war es ein prägendes Ereignis. Denn die deutsche Mannschaft spielte einen völlig uninspirierten Fußball, der die junge Fan-Generation schlagartig und für den Rest ihres Lebens auf schlechte Leistungen der DFB-Auswahl gefasst machte. 1:5 in der Vorbereitung gegen Rumänien? – 1978 gab es außer einem 6:0 über Mexiko nur vier Unentschieden. Und schließlich mit der desaströsen Niederlage gegen Österreich (der »Schmach von Cordoba«) die wohlverdiente Höllenfahrt. Irgendwie war das alles aber egal, denn ein paar Wochen später begann eine neue Bundesliga-Saison, und die war – WM-Sammelbildchen hin oder her – viel wichtiger.
Woher kam schon damals diese Gleichgültigkeit, dieses schnelle Abhaken nationaler Misserfolge? – Es lässt sich nur als Akt der Widerspenstigkeit erklären, als eine Renitenz, die sich aus einem Mangel an Theologie speist. Einerseits trägt jeder noch so linke Fußballfan seit Kindertagen einen Rest sportlichen Patriotismus’ in sich, andererseits wird daraus aber nicht obligatorisch echte Fan-Begeisterung. Wie sollte es auch dazu kommen? Der Verbundenheit mit dem deutschen Team fehlt jene Faszination, die den Anfang der meist lebenslangen Liebe zu einem Verein kennzeichnet: Das epiphanische Erlebnis, die Offenbarung, einen Verein zu erkennen und sich selbst als Fan dieses Vereins, ist frei von jeder Letztbegründung – gerade darin liegt das Geheimnis, das letztendlich eines des Glaubens ist. Man wählt eben nicht selbst, eher schon: Es findet einen. Dass er auch ein Fan der Nationalmannschaft sein soll, hinterfragt der Heranwachsende nicht, er ist es per Ordonnanz. Nicht schlimm zunächst, denn er will es ja auch sein. Doch mit zunehmendem Alter und angesichts sich häufender WM- und EM-Misserfolge – und vor allem, so scheint es, wenn er in der Stadt wohnt – tritt hervor, was schon lange in ihm angelegt war: Die Mitgliedschaft in der Fangemeinde der Nationalelf ist eine, die er sich nicht ausgesucht hat. Warum also nicht rebellieren gegen eine Beziehung, die den Zauber des Anfangs, das unerklärliche Aufeinandertreffen eines Ich und eines Du ohnehin nie gekannt hat?
»Fan Club Nationalmannschaft«
Insgeheim weiß der DFB das. Und da eine WM im eigenen Land ansteht, muss die fan-theologische Lücke gefüllt werden. Deshalb gründete man, angeregt durch die eindrucksvollen Kulissen der letzten WM in Japan und Korea, im März 2003 »in exklusiver Zusammenarbeit mit Coca-Cola, dem größten Softdrink-Hersteller der Welt« den »Fan Club Nationalmannschaft«, über den man sich auf der DFB-Homepage informieren kann. Für 20 Euro jährlich bekommt der Fan »mehr geboten als ein Wir-Gefühl«, nämlich ein »Welcome-Pack mit Stadiongrundausstattung«, Kartenvorkaufsrechte, Rabatt beim Kauf eines DFB-Trikots und (mit etwas Glück) »unbezahlbare Momente wie etwa eine Begegnung mit Nationalspielern oder eine kurze Unterhaltung mit Rudi Völler und Michael Skibbe während des Trainings vor einem Länderspiel«. – Manche Dinge sind eben unbezahlbar, für alle anderen gibt’s Coca Cola.
Doch es soll hier nicht um Kapitalismuskritik gehen. Oliver Bierhoff, »Pate des Projekts«, weist darauf hin, dass »gerade von den Mitgliedern des Fan Club Nationalmannschaft erwartet wird, dass diese durch ihr Auftreten und ihr Verhalten das Erscheinungsbild der Nationalmannschaft positiv beeinflussen, sie in den Stadien und dem Umfeld gegen Diskriminierung, Rassismus und Gewalt und für Toleranz und Fairness eintreten«. Das Angebot des DFB an die Fans, sich auf einen Austausch von Leistungen zu verständigen, verweist in aller Deutlichkeit auf das fan-theologische Problem der deutschen Nationalmannschaft – und auf jenes fundamentale Paradoxon des modernen Fußballs: Niemand ist so anfällig für die kapitalistischen Merchandising-Auswüchse wie die echten Fans. Aber dieselben echten Fans sind am allerwenigsten durch das kapitalistische Modell eines Leistungsaustauschs für eine Mannschaft zu gewinnen.
Übung in Autosuggestion
Also gehen viele von uns deutschen Fans einen dritten Weg, jenseits von Unterstützung und Verweigerung. Wir suchen uns das Team einer anderen Nation aus und üben uns in der Autosuggestion, es hätte uns ergriffen, wie uns einst ein Verein ergriffen hat: die Franzosen vielleicht, wegen ihres Internationalismus; die Engländer, wegen ihres Kämpferherzens; die Brasilianer, wegen ihrer Spielfreude; die Italiener, wegen ihrer Eleganz... Der Selbstbedienungsladen der kompensatorischen Projektionen ist groß und könnte schon bald den deutschen Brasilien-Fan hervorbringen, der sich enttäuscht von »seinem« Team abwendet, um fortan z.B. für die Südkoreaner zu sein, oder für die Färöer, oder für die Senegalesen – oder für die Deutschen. Auch wenn sie einem wieder den Feierabend vermiesen wollen.
Literatur
Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 208 Seiten, 8,90 Euro. (Besprechung in der aktuellen StadtRevue, S. 73)
Christoph Biermann: Wenn du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995, 243 Seiten, 7,90 Euro.
Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Fans und Fußball. Holt euch das Spiel zurück!, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1995, 270 Seiten, zurzeit vergriffen.
Kicken Kucken!
Die Fußball-EM vom 12. Juni bis 4. Juli in Portugal: Ein paar ausgewählte Tipps
Kneipen
Vasco da Gama, 50823 Köln, Neuehrenfeld, Liebigstr. 120, &17 36 80. Die ganze EM als Heimspiel: Das Vasco da Gama ist nicht nur ein gutes portugiesisches Restaurant, sondern auch ein kulturelles – und für die EM sportliches – Zentrum der portugiesischen Community. Auf Großbildleinwand werden alle Spiele gezeigt, dazu gibt es gute portugiesische Küche und Getränke.
Jameson Distillery Pub, 50670 Köln, Friesenviertel, Friesenstr. 30-40, &912 33 23. Der große Pub ist ein angemessener Ort für soccer and beer: Viel englischsprachiges Publikum kommentiert das Geschehen auf dem Platz bzw. der Leinwand. Meist werden im Jameson Fußballübertragungen von englischen Fernsehsendern gezeigt.
Durst, 50668 Köln, Nordstadt, Weidengasse 87, &13 63 66. Das Durst bewegt sich im Koordinatensystem Bier – Musik – Fußball, und das nicht nur zur EM. Am Tresen findet man stets fachkundiges Publikum, der Biernachschub ist das kleinste Problem. Durstig bleibt hier niemand.
Cleanicum, 50672 Köln, Belgisches Viertel, Brüsseler Str. 74-76, &869 06 38. Die Mischung aus Bar und Waschsalon präsentiert unter dem Titel »Zurück ins Funkhaus« zu ausgewählten EM-Spielen ein besonderes Spektakel: Nachwuchsmoderatoren und Stand-up-Comedians wie Michel Birbaek oder Sonja Kling werden die Spiele live zur Großbildleinwand kommentieren. Programm unter www.elf-konzepte.de
Biergärten
Kahnstation im Blücherpark, 50739 Köln, Bilderstöckchen, Escher Straße/Ecke Parkgürtel, &170 22 91. Einer der schönsten Orte Kölns zum Draußen-Fußball-Gucken. Auf Großleinwand sind hier vom ersten bis zum letzten Tag alle Spiele und Tore zu sehen. Im dazu gehörigen Biergarten gibt es alles, was man für ein Spiel braucht: kühles Bier, Wein, kleine Mahlzeiten. Und in den Halbzeitpausen kann man zur Entspannung ein Ruderboot leihen und ein paar Runden auf dem See drehen.
Volksgarten, 50677 Köln, Südstadt, Volksgartenstr. 27, &38 26 26. Der Biergarten im Volksgarten zeigt alle Spiele auf Großfernsehern – je nach Publikumszuspruch stehen einer bis sechs Fernseher bereit. Dazu gibt es frisch gezapftes Kölsch und Biergartenkost.