Revolution und Besatzung sind eine gute Story
Goethe hatte ein Problem: Immer, wenn ihn Trübsinn übermannte und er zur Feder griff, um seine seelischen Schmerzen zu Papier zu bringen, verwandelte er diese dabei in schöne Kunst, um die man ihn beneidete. Keiner konnte sich vorstellen, dass ein so ästhetisch ausgeformter Schmerz auch wirklich belastend sein könnte, und viele, denen es besser ging, hätten wohl gerne getauscht, um auch so schön zu leiden wie »der Bescheidwisser aus Weimar«.
Bei Marjane Satrapis überraschend erfolgreichen autobiografischen Cartoon-Roman »Persepolis« (mehr als 200.000 verkaufte Exemplare allein in Frankreich) verhält es sich ganz ähnlich. Satrapis Schilderungen der iranischen Revolution, des staatlichen Terrors sowie des Krieges mit dem Nachbarland Irak, der Bombenangriffe auf Teheran sind so elegant und kunstvoll in Szene gesetzt, dass der reale Horror hinter den Bildern ein Stück weit auf der Strecke bleibt. Im Interview hat Satrapi erklärt, sie habe auf alle Fälle vermeiden wollen, die Geschichte mit einer wehleidigen und larmoyanten Patina zu überziehen. Sie wusste, dass die Geschichte dadurch ungenießbar
geworden wäre. So also hat sich Iranerin entschlossen, die Geschichte aus der Sicht des heranwachsenden Mädchens zu erzählen, das sie selbst einst war.
Philosophische Fantasie und rebellischer Geist
Die ehemalige Kinderbuchautorin hat so eine ganz eigene Bildersprache entwickelt: Die philosophisch angehauchte Fantasie der kleinen Marji bringt die Geschichte zum Schweben, und ihr rebellischer Geist verleiht der Kleinen einen gewissen heroischen Glanz. Viele Anekdoten in dem Buch glänzen mit hintergründigem Witz. Marjis Lieblingscartoon heißt »Der Dialektische Materialismus«. Darin diskutieren Descartes und Marx über Ontologie. Descartes stellt seine Behauptung auf, dass die materielle Welt nicht wirklich existiert – »Sie ist nur eine Reflexion unserer Vorstellung« -, woraufhin Marx seine materialistische Weltanschauung dadurch untermauert, dass er dem Franzosen einen Stein gegen die Rübe pfeffert und somit einen Punktsieg landet.
Daneben finden sich in »Persepolis« auch profanere Anekdoten. Als Marjis Eltern von einer Reise aus der Türkei zurückkommen, bringen sie Poster von Kim Wilde und Iron Maiden mit, und ausgerüstet mit den neuen Nike-Turnschuhe und dem Micheal-Jackson-Sticker, aber auch mit dem vorgeschriebenen Kopftuch, wagt sich Marji vor die Tür. Während sie »We’re the kids in America« vor sich hinsummt, pirschen sich die Revolutions-Wächterinnen an. Leider nehmen sie dem Mädchen nicht ab, dass der Mann auf ihrem Sticker Malcom X ist, Anführer der schwarzen Muslime in Amerika, und ihr Instinkt sagt ihnen auch, dass sie die Turnschuhe nicht für den Sportunterricht braucht – »Schweig! Es ist Punk!«
»Schweig! Es ist Punk!«
Satrapi befreit ihre düstere Geschichte von dem kunstphilosophischen Prinzip der Mimesis, nach der die Kunst das Leben nachbilden sollte. Das ist ein Grund für die ungeheure Popularität des Buches: Dem Leser wird nicht schwindelig, weil ihm der Abgrund, der hinter den beschriebenen Ereignissen liegt, nicht in vollem Ausmaß bewusst gemacht wird. Dadurch, dass die kleine Heldin der Geschichte all die Gefahren übersteht und der fundamentalistische Terror, der im Zuge der Iranischen Revolution freigesetzt wurde, sie nicht zermürbt, sondern ihr im Gegenteil dabei behilflich zu sein scheint, ihre liberalen Glaubensgrundsätze überhaupt erst zu festigen, dadurch bekommt dieser »Bildungs-Cartoon« eine leicht abenteuerliche Aura, und der Leser ertappt sich bei dem idiotischen Gedanken: Wow, was für eine aufregende Zeit das gewesen sein muss...
Auch die Geschichten, die Joe Sacco in »Palästina« erzählt, sind aufregend, allerdings auf eine andere Art. Sacco arbeitet nicht mit romanhafter Dramaturgie, sondern mit der drastischen Unmittelbarkeit des Reportagestils. Der Amerikaner hat sich im Winter 1991/92 zwei Monate lang in den besetzten Gebieten aufgehalten und mit den Palästinensern über die Vertreibung, die Unterdrückung, die Gefängnisse und das Leben in den Flüchtlingslagern unterhalten.
Eine Mischung aus Woody Allen und Igel Mecki
Sacco portraitiert sich selbst als linkischen Typen, der rein optisch rüberkommt wie eine Mischung aus Woody Allen und dem Hörzu-Igel Mecki. Das Schöne bei Sacco ist, dass er dem Leser zunächst ganz subtil und dann immer deutlicher vermittelt, wie eng das selbstlose Engagement für ein entrechtetes Volk mit dem eitlen Bestreben verbunden ist, durch diese Tätigkeit in den medialen Vordergrund zu rücken. Sacco zeichnet sich, wie er besessen durch die Straßen von Ramallah rennt, angetrieben von der leicht ins Perverse spielenden Gier nach der ganz großen Katastrophe, nach dem ganz großen Knall, weil er ahnt, dass dieser ihn nach ganz oben katapultieren würde. (»Es ist gut für den Comic! Es ist gut für den Comic!«) Mit wunderbarer Selbstironie sind auch die Szenen versehen, in denen Sacco bei seinen bettelarmen palästinensischen Bekannten immer noch einen Nachschlag nimmt, obwohl ihn sein Journalisten-Kollege von der BBC darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Gastgeber im Flüchtlingslager die Tafel nur für die Gäste festlich eindecken, aber eigentlich selber nichts zu essen haben.
Folterpraktiken und Journalistenalltag
Ein großer Teil von Saccos Cartoon-Reportage widmet sich Schilderungen von Gefängnisaufenthalten und den Folterpraktiken des israelischen Geheimdienstes Shin Bet. Auch hier überzeugt der Autor trotz seiner engagierten Parteinahme durch Sachlichkeit und Detailreichtum, wie man es von einer glaubwürdigen Reportage erwarten kann. Er beschreibt, wie sich die palästinensischen Männer in den Gefängnissen organisierten, wie sie sich Lesen und Schreiben sowie verschiedene Sprachen beibrachten und wie die Professoren unter ihnen sogar Vorlesungen über Philosophie, Einstein und die israelische Friedensbewegung hielten.
So ist Saccos »Palästina« informativ, und es gelingen immer wieder feinfühlige, dramatische und würdevolle Portraits von Menschen, deren Leben von schweren Entbehrungen gezeichnet sind. Er ist ein genauer Beobachter, und er gewinnt den Personen, denen er begegnet, aber auch den Orten, die er aufsucht, eine Einmaligkeit und Intensität ab, dass man das Gefühl hat, vor Ort zu sein. In einer Szene, in der israelische Soldaten einen palästinenischen Jungen im Regen verhören, meint man, die Tropfen in den Schlamm rauschen zu hören.
Marjane Satrapis »Persepolis« ist sicherlich ein noch größeres Lesevergnügen als Joe Sackos »Palestine«, aber da, wo Satrapi kunstvoll poetisch abstrahiert, konkretisiert Sacco seine Geschichte. Deswegen ist er nicht nur politischer, sondern er kommt auch den Menschen näher, von denen er erzählt.
Joe Sacco: Palästina. Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2004, 285 S., 17,90 Euro.
Marjane Satrapi: Persepolis, Edition Moderne, Zürich 2004, 160 S., 22,00 Euro.