Spiel des Lebens

Seit »Motherless Brooklyn« gilt er als einer der wichtigsten jüngeren US-Autoren. Mit dem 700-Seiten-Roman »Die Festung der Einsamkeit« legt

Jonathan Lethem jetzt sein opus magnum vor.

Thorsten Krämer sprach mit ihm über Spiele, Kinder und das Schreiben

 

Nicht nur Autos, auch Spiele haben Identität stiftendes Potenzial. Was der Generation Golf ihr »Vier gewinnt« oder »Spiel des Lebens«, ist für jeden, der seine Kindheit in den 70er Jahren in Brooklyn verbracht hat, eine vereinfachte Form des Baseballs: Skully. Das kennt hierzulande niemand, aber was danach kommt im Leben der beiden Freunde Dylan und Mingus, deren Heranwachsen Jonathen Lethems neuer Roman schildert, beschäftigt seitdem die halbe Welt: Comics, Grafitti, HipHop.
»Die Festung der Einsamkeit« erzählt von Dylan, der mit seiner Hippie-Mutter und seinem Künstler-Vater Abraham in das hauptsächlich von Schwarzen bewohnte Viertel Boerum Hill in Brooklyn zieht. Als einziger weißer Junge dort durchlebt er seine Kindheit gleichermaßen als Prügelknabe und Paradiesvogel. Zusammen mit seinem besten Freund Mingus, dem Sohn eines abgehalfterten Soul-Sängers, ist er Zeuge der Geburt des HipHop, taucht in die Welt der Superhelden und Sprayer ein und lernt eine Menge über das Leben. Teils Entwicklungsroman, teils Zeitporträt, ist »Die Festung der Einsamkeit«, Lethems bislang persönlichstes Buch: eine Liebeserklärung an die eigene Kindheit, die nebenbei noch mit einem enzyklopädischen Popwissen aufwartet.

StadtRevue: Was ist zur Zeit Ihr Lieblingsspiel?

Jonathan Lethem: Mafia. Das ist ein Spiel, das ganz ohne Würfel oder so etwas auskommt, es besteht nur aus Gesprächen.*

Was gefällt Ihnen an diesem Spiel?

Dass es mit Geschichtenerzählen zu tun hat. Das Spiel entwickelt sich zu einer Art Roman oder Geschichte. Die Spieler werden zu Figuren, während sie spielen.

Eine Geschichte zu schreiben und ein Spiel zu spielen sind demnach sehr ähnlich?

Auf jeden Fall. Bei meinen ersten Büchern stellte ich mir jeweils ein sehr spezielles Problem, das praktisch nicht zu lösen war, etwa ein Buch zu schreiben, das eine Kombination aus Italo Calvino und Don DeLillo wäre – die passen eigentlich nicht zusammen, aber ich kriege es so hin, dass sie doch zusammen passen. Oder einen Philipp K. Dick-Roman zu schreiben, als hätte Raymond Chandler ihn geschrieben... Ich bin dann weiter gegangen zu komplizierteren Spielen, die man schlechter auf eine Formel bringen kann. Aber ich glaube immer noch, dass das Schreiben eines Buches viel damit zu tun hat, Regeln und Hindernisse aufzustellen, zu würfeln und einen Zug zu machen. Man spielt immer weiter und weiß nicht, wie es weitergeht, bis man ans Ende gekommen ist.

Welche Regeln haben Sie dann für »Festung der Einsamkeit« aufgestellt?

Das ist eine knifflige Frage, denn gerade dieses Buch habe ich geschrieben, um die üblichen Regeln und Begrenzungen zu sprengen, mit denen ich sonst gearbeitet hatte. Ich wollte damit eine höhere Spielebene erreichen, bei der man die Regeln nicht mehr erkennen kann – ein Spiel, das stärker dem Leben ähnelt. Auch hier gibt es Regeln und Einschränkungen, aber die ändern sich ständig und sind zu komplex, um endgültig beschrieben zu werden.

Also markiert dieses Buch eine neue Phase in Ihrem Schreiben?

In diesem Sinne, ja. Aber auch die höhere Spielebene ist immer noch ein Spiel. Als ich mich daran machte, ein Buch zu strukturieren, das scheinbar keine Struktur hat bzw. das so kompliziert ist, dass die Struktur ständig gebrochen wird, habe ich natürlich bei Schriftstellern nachgeschaut, die so etwas geschrieben haben: Philip Roth etwa, oder Charles Dickens.

Spiegeln Ihre Gedanken über Spiele auch Ihre Gedanken über das Leben wider?

Wahrscheinlich. Diese Tendenz, auch das Leben zu organisieren und Zuflucht in einfachen, überschaubaren Strukturen zu suchen, ist auch das Thema des Buches. Wenn man sich Dylans Psychologie oder die seines Vaters Abraham anschaut, dann haben sie beide diese Tendenz, mit dem Leben fertig zu werden, indem sie es reglementieren.

Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass die Abfolge der Spiele im Buch, die von Skully an immer komplizierter werden, wie eine Metapher für Ihr eigenes Schreiben ist.

Stimmt. Natürlich ist das Buch auch als ein Modell für ein sich erweiterndes Bewusstsein angelegt, das ständig größere Kreise zieht. Am Anfang ist der Junge wie ein Käfer auf einem Stein, er betrachtet nur eine ganz kleine Fläche, dann erweitert sich seine Welt zu seiner Straße, seinem Viertel, und irgendwann erkennt man Manhattan am Horizont.

Hat diese ständige Horizonterweiterung auch mit Ihrer eigenen Entwicklung als Schriftsteller zu tun?

Ich hatte dieses Buch schon länger im Kopf, aber ich hätte es früher nicht schreiben können. Als ich anfing zu schreiben, war ich zu sehr an Strukturfragen interessiert, ich wäre diesem Material nicht gerecht geworden. Ich musste erst die Werkzeuge finden, die mich von meinen eigenen Strukturen befreien konnten.

Normalerweise sind Spiele ja etwas für Kinder, nicht für Erwachsene. Ist es da ein Vorrecht des Schriftstellers, auch als Erwachsener weiter spielen zu können?

Auf jeden Fall. Und auch in dem Buch ist ja jeder eine Art Künstler oder ist zumindest sehr neidisch auf die Rolle des Künstlers.

Steckt hinter diesen Figuren also ein Selbstporträt mit verteilten Rollen? Neben Dylan gibt es ja auch Abraham, der an einem Film arbeitet, bei dem er jedes einzelne Bild auf dem Zelluloidstreifen von Hand bemalt ...

... was eigentlich ein Bild für das Schreiben eines Romans ist, ja. Abraham steht mir als Figur sehr nahe, ich denke, dass ich ihm noch mehr ähnele als Dylan. Aber Abraham steht auch für den Künstler in seiner extremsten Form, der praktisch keinen Kontakt zu seiner Umwelt mehr hat. Ich bin da schon besser integriert als er. Jeder Künstler spürt jedoch diese Spannung zwischen der ganz eigenen Realität der Arbeit und der Notwendigkeit, damit nach draußen zu gehen, um Anerkennung und Liebe zu bekommen. (lacht.) Bei Abraham ist dieser Konflikt extrem zugespitzt. Auf der einen Seite malt er völlig abgeschieden an seinem Film, der ihm die höchste Erfüllung bedeutet, aber für seine Auftragsarbeiten bekommt er gutes Geld und Aufmerksamkeit. Ich bin da das Gegenteil, denn ich habe beides in einem: Ich kann die Sachen machen, die mich persönlich interessieren und zufrieden stellen, und habe das Glück, auch genau dafür die Anerkennung zu bekommen.

Welche Erinnerungen sollten Ihre Kinder später einmal von ihrer Kindheit mit einem Schriftsteller-Vater haben?

Ich habe viele Erinnerungen an meine Kindheit, die in dem Buch gar nicht vorkommen. Abraham und Dylan leben in einem sehr einsamen Haus, ich hatte Geschwister und meine Eltern hatten so unglaublich viele Freunde, dass unser Haus ständig voll war. Mein Vater ist Maler, aber er ist nicht isoliert, ganz im Gegenteil. In seinem Atelier war immer etwas los, Modelle und andere Maler waren dort, Freunde kamen vorbei, um sich die Bilder anzuschauen. So etwas würde ich mir auch wünschen. Noch habe ich keine Kinder, aber ich kann mir gut vorstellen, so mit einer Familie zu leben.


*Die Regeln für Mafia und Jonathan Lethems persönliche Strategietipps dazu finden sich in der Printausgabe der StadtRevue


Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit,
aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner,
Tropen Verlag, Köln 2004, 700 S., 24,90 Euro (ab 6.9.
im Handel)

Lesung: Am 22.9. liest Jonathan Lethem im Literaturhaus Köln, 20 Uhr.

StadtRevue verlost 5 Exemplare des Buchs: mail bis 13.9. an verlosung@stadtrevue.de, Stichwort »Einsamkeit«