Foto: Dörthe Boxberg

»Sag das nicht!«

 

Die Opfer des Nagel­bombenanschlags an der Keupstraße haben beim NSU-Prozess in München ausgesagt

Eine Geste hat Adnan Yavus (Name geändert) bekannt gemacht. Zigfach hat er sie wiederholt — in seinem Laden vor der ZDF-Kamera, in einem Café an der Keupstraße, vor dem Gerichtsgebäude beim NSU-Prozess in München. »Ich habe der Polizei gesagt: ›Das waren Neonazis‹«, erzählt der Ladenbesitzer. »Dann hat die Polizei zu mir gesagt: ›Sag das nicht!‹« Und dann legt der Mann mit den weißen, kurzen Haaren seinen Zeigefinger auf den Mund — so wie es der Polizist bei seiner Vernehmung im Sommer 2004 getan hat.

 

Im Januar ist Adnan Yavus mit der Initiative »Keupstraße ist überall« zum NSU-Prozess nach München gefahren. Für ihn war es die erste Begegnung mit Beate Zschäpe. »Ich wurde wie zu Eis, und der Moment des Attentats kam wieder«, beschreibt Yavus seine Gefühle. »Am schlimmsten war, dass Zschäpe die ganze Zeit am Laptop saß, als würde sie nichts interessieren — als würde sie uns verhöhnen wollen.« 

 

Erst als er auf einem Lautsprecherwagen seine Rede hielt, sei dieses Gefühl verschwunden. Nach der Kundgebung demonstrierten 1500 Menschen in der Münchener Innenstadt für eine lückenlose Aufklärung des NSU-Komplexes, Yavus lief in der ersten Reihe mit: »Ich habe gedacht: Hier sind so viele Deutsche, die gegen das Unrecht, was uns angetan wurde, auf die Straße gehen. Manche sind sogar vom Straßenrand dazugekommen. Das hat mich tief be--eindruckt.« 

 

Die Resonanz auf die Aktionen der Initiative in München war positiv, für einen Tag war die Keupstraße in jeder Nachrichtensendung. In der zweiten Vernehmungswoche sorgte jedoch Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela -Friederichsen mit einem Artikel auf Spiegel Online für einen kleinen Skandal. Sie fragte sich, ob die Nebenklägerin Sermin S. aus der Keupstraße ein »wahres Opfer« sei, wenn sie den Bombenanschlag in ihrer Wohnung erlebt habe. Damit lieferte Friederichsen Zschäpes Verteidigung eine Steilvorlage. Zschäpes Anwälte beantragten daraufhin, die Nebenklägerin nicht mehr zuzulassen, weil nicht er--wiesen sei, dass sie durch den Anschlag traumatisiert worden sei. Die Bundesanwaltschaft widersprach dem Antrag, eine Entscheidung des Gerichts stand jedoch bei Redaktionsschluss noch aus.  

 

Was vordergründig wie ein Streitfall der psychologischen Einschätzung wirkt, ist ein Ringen um den Charakter des NSU-Prozesses. Denn Sermin S. wird von Alexander Hoffmann aus Kiel vertreten, einem der engagiertesten Anwälte im NSU-Prozess, der immer wieder Beweismaterial in den Gerichtssaal einbringt, um auf die Verstrickungen von Verfassungsschutz, Naziszene und NSU aufmerksam zu machen. Falls die Klientin von Alexander Hoffmann aus der Nebenklage ausgeschlossen wird, haben Zschäpe und ihre Anwälte einen Gegner weniger im Gerichtssaal.

 

Dabei sind längst nicht alle Anwälte der Keupstraßen-Opfer so engagiert wie Alexander Hoffmann — der Anwalt von Adnan Yavus etwa. »Ich habe meinen Anwalt 2013 getroffen und dann erst zwei Stunden vor meiner Aussage wieder«, erzählt er. Per Telefon habe sich der Anwalt damals bei Yavus angeboten, kurz danach kam es zu einem Treffen, dann habe Funkstille geherrscht. Mitglieder der Keupstraßen-Initiative haben Yavus daher geholfen, sich auf seine Aussage vorzubereiten und seine Reise zum Prozess organisiert. Erst im Zeugenzimmer des Oberlandesgerichts München seien Yavus und der Anwalt wieder aufeinandergetroffen. »Mein Anwalt hat zu mir gesagt: ›Sag nicht, dass es die Neonazis waren. Sag, der Anschlag sei fremdenfeindlich gewesen.‹« Yavus fühlte sich an die Worte der Polizisten kurz nach dem Anschlag erinnert. Im Gerichtssaal habe er dann gesagt: »Es war ein fremdenfeindlicher Anschlag. Und es waren die Neonazis.« Daraufhin hat ihn Richter Manfred Götzl gefragt, warum er denn nicht zum Arzt gegangen sei. Nach der fünften Nachfrage sei er wütend geworden: »Ich bin eben nicht gegangen.« 

 

Damit war Yavus nicht der einzige. Viele Opfer haben den Kontakt mit offiziellen Stellen in den Tagen nach dem Anschlag vermieden, weil sie Angst hatten, damit ins Visier der Ermittler zu geraten.

 

An den NSU-Prozess hat Adnan Yavus nach seinem Besuch keine Erwartungen mehr: »Wir — die Familien der Mordopfer und die Menschen aus der Keupstraße — wir freuen uns nicht, wenn Beate Zschäpe zehn oder zwanzig Jahre bekommt«, sagt er. »Gerechtigkeit ist erst dann erreicht, wenn alle vor Gericht stehen, die ermöglicht haben, dass das alles passiert ist.«

 

Vielleicht hilft der NSU-Untersuchungsausschuss in NRW dabei. Birgit Rydlewski von der Piratenpartei, die die Einrichtung des Ausschusses angestoßen hat, erklärte schon im Vorfeld: »Ich finde es wichtig, die Opferperspektive in den Ausschuss einzubringen.« Konkrete Pläne dafür existieren bislang jedoch nicht. Adnan Yavus sagt, er würde auf jeden Fall dort aussagen, wenn man ihn fragte. 

 

 Denn die Angst von 2004 ist geblieben. »Durch die Bombe haben wir erst verstanden, in welcher gesellschaftlichen Stellung wir sind«, erzählt er. »Meine Frau sagt, dass ich jetzt bekannt sei. Wir haben wieder Angst. Aber ich habe vor Gericht gesagt, was ich sagen wollte. Das war mir sehr wichtig.«