Danke Berlin! – Für was nochmal genau? | Illustration: Saskia Overath

Die Verfolger der Bosheit

Das preußische ­Modernisierungsprogramm provozierte von Anfang an den ­Widerstand verarmter Rheinländer

Wenn die Bauern in der Eifel im Vormärz, den »hungrigen Vierzigern«, vom »Preußenbaum« sprachen, dann war das alles andere als ein frühes »Danke, Berlin«. Heute bewirbt der Eifeltourismus als Sehenswürdigkeit eine stattliche Fichte im Gerolsteiner Ortsteil Pelm mit einem Stammdurchmesser von über vier Metern, die 1938 (!) zum Naturdenkmal »Preußenbaum« erklärt wurde. Zurück geht dieser Begriff aber auf den erbitterten Widerstand der Landleute in der Eifel gegen ein preußisches Industrialisierungs- und Kapitalisierungsprogramm, das ihre traditionelle Unterhaltssicherung bedrohte.

 

Der Wald bildete eine der wichtigsten Ressourcen der bäuerlichen Reproduktion — nicht nur als Quelle von Brenn- und Bauholz, sondern auch als Grundlage der Schweinemast mit Bucheckern und Eicheln, zum Laubsammeln oder Torfstechen. Diese traditionelle Waldnutzung geriet mit der beginnenden Indus­tria­li­sierung in einen immer schärferen Konflikt mit den Eigentumsrechten der Waldbesitzer — in vielen Fällen die Landesfürsten —, die im Wald vor allem eine Rohstoffquelle für die expandierenden Kohlegruben und Eisenindustrien sahen. Zur Legitimierung der nach 1815 von Preußen eingeleiteten Forstpolitik wird bis heute gerne darauf verwiesen, dass die extensive bäuerliche Waldnutzung schon am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem dramatischen Rückgang der Bewaldung und zunehmender Bodenerosion in der Eifel geführt habe, die »modernen« preußischen Aufforstungsprogramme folglich eine öko­logische Katastrophe verhindert hätten. Der sozial­historisch arbeitende Waldforscher Joachim Radkau stellt dieses Bild von der Beglückung der Eifel durch Berliner Umweltbewusstsein nachdrücklich in Frage. Die Laubbäume, auf denen die bäuerliche Subsistenz beruhte, wurden durch die Monokultur der Fichte ersetzt. Sie wächst schnell und macht den Wald zu einer profitableren Quelle von Bau- und Brennholz für die Industrie. Die Folgen davon können wir bis heute auf unseren Wanderungen besichtigen, und erst nach den Orkanschäden und Borken­­käfer­plagen der letzten zwanzig Jahre geht die Tendenz wieder stärker in Richtung einer Aufforstung mit Buchen und anderen Laubbäumen.

 

Die Landleute in der Eifel sahen in der Fichte, dem »preußischen Baum«, eine Kampfansage an ihre Lebensgewohnheiten

 

Die verarmten Menschen in der Eifel sahen daher in der Fichte, dem »preußischen Baum«, eine Kampfansage an ihre Lebensgewohnheiten und eine Strategie der Herrschenden in dem schon länger andauernden Kampf um den Wald. Ganze Gemeinden revoltierten gegen die Aufforstung mit Fichten. Der sogenannte »Holzfrevel«, die unerlaubte Entwendung von Holz aus dem Wald, wurde zum wichtigsten Eigentumsdelikt dieser Zeit. Die Kriminalstatistik weist für das Jahr 1835 im Landgerichtsbezirk Köln 534 eingeleitete Untersuchungen wegen Diebstahls und 2630 Fälle von Holzdiebstahl aus. Dieser versteckte soziale Krieg nahm dermaßen zu, dass der Rheinische Landtag im Herbst 1842 über neue gesetz­liche Strafbestimmungen gegen den Holzfrevel beraten musste. Diese parlamentarischen Beratungen erlangten eine gewisse Berühmtheit, weil sich ein junger Journalist namens Karl Marx mit ihnen zu befassen hatte. Marx war mehr zufällig an den Job als informeller Chefredakteur des liberalen Zeitungsprojekts Rheinische Zeitung gekommen, weil der angefragte Industrialisierungsfanatiker Friedrich List abgelehnt hatte. Die Debatten über den Holzfrevel brachten Marx, wie er später schrieb, »zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen« — sicherlich war den wenigsten Eifelbauern bewusst, dass sie durch ihre Rebellion zu Geburtshelfern des historischen Materialismus werden sollten.

 

Von den tatsächlichen Dimensionen und Formen der alltäglichen Klassenkämpfe um das tägliche Holz in der Rheinprovinz wusste der Trierer Bürgersohn Marx damals noch herzlich wenig, obwohl ihm das Phänomen nicht völlig unbekannt gewesen sein dürfte. Ab 1828 hatte sein Vater Bauern der Gemeinde Mark Thalfang auf dem Hunsrück in einem langjährigen Prozess gegen die Einschränkung ihrer Waldnutzungsrechte vor dem Landgericht Trier anwaltlich vertreten. Aber die damaligen Kämpfe um das Holz lassen sich nicht allein als das Auf­ein­ander­prallen von »Tradition« und »Moderne« begreifen, wie auch Marx sie in seinen Artikeln interpretierte. Denn es handel­te sich auch um einen modernen Kampf zwischen Arm und Reich, in dem Bauern illegal geschlagenes Fichten­holz auf dem Markt verkauften, um ihre Not zu lindern.

 

Als sich im Zuge der ab März 1848 einsetzenden Revolution die Ordnungsmacht geschwächt zeigte, nahmen die Holzfrevel massiv zu, wie auch an anderen Konfliktlinien der »spontane«, das heißt nur für die Augen der bürgerlichen Öffentlichkeit unsichtbar organisierte, Widerstand der »gefährlichen Klassen« gegen die Zumutungen der neuen Eigentumsordnung eskalierte. Besonders dramatisch wurde für kurze Zeit die Rheinschifferbewegung im Frühjahr 1848, in der sich die Segelschiffer und Schiffszieher, die Treidler oder Rheinhalfen, gegen ihre zunehmende Verdrängung durch die von Unternehmern wie dem Kölner Ludolf Camphausen seit den 1830er Jahren eingeführte Dampfschifffahrt zur Wehr setzten. Neben Versammlungen in Köln und Petitionen an die Regierung griffen die Rheinhalfen an einzelnen Orten von Wesseling bis Koblenz auch zu den Waffen. Ab Anfang April wurden vorbeifahrende Dampfschiffe an verschiedenen Stellen mit Gewehren, Flinten und sogar einer Kanone unter Beschuss genommen, die Schiffseigner mussten die Dampfmaschinen und Besatzungen vorsorglich durch große Eisenplatten schützen. Erst nach drei Wochen gelang es einer verstärkten Präsenz preußischer Truppen, diesen Aufstand endgültig niederzuschlagen. In Kripp bei Remagen erinnert heute ein 1995 vom Bürger- und Heimatverein errichtetes »Böllerdenkmal« am An­lege­platz der dortigen Fähre an diesen bisher wenig untersuchten »Aufstand der Rheinhalfen«.

 

Der Eisenbahnbau wurde zum Schauplatz großer ­Streik­bewegungen im Vormärz, weil auf den Großbaustellen ­Hunderte von Wanderarbeitern zusammenkamen

 

Proteste gab es auch von Fuhrleuten gegen die Konkurrenz der Eisenbahnen, deren Bau vom Kölner Bürgertum und vom preußischen Staat massiv gefördert wurde, wobei es letzterem auch um den militärischen Aspekt ging. Im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 sollte sich zeigen, dass das deutsche Eisenbahnwesen kriegsentscheidend geworden war. Auf der anderen Seite wurde der Eisenbahnbau zum Schauplatz großer Streik- und Lohnbewegungen im Vormärz, weil auf diesen ersten Großbaustellen im Rheinland hunderte von Wanderarbeitern zusammenkamen und sich ihrer Macht bewusst wurden. Ihr militantes Einfordern höherer oder wenigstens pünktlich ausgezahlter Löhne konnte oft nur durch den Einsatz des Militärs eingedämmt werden.

 

Wenig wissen wir immer noch über die Kämpfe von Frauen in dieser rebellischen Zeit in Köln, während die Aktivitäten des von Andreas Gottschalk gegründeten Arbeiter-Vereins mit mehreren Tausend Mitgliedern recht gut erforscht ist. Der blieb aber, warum auch immer, ein reiner Män­nerverein. So schreibt die Historikerin Irene Franken vom Kölner Frauen­­geschichts­verein, die mit dafür gesorgt hat, dass die der Vergessenheit entrissene Mathilde Franziska Anneke, die radikale Frauenrechtlerin des Vormärz, heute zum Figurenprogramm des historischen Rathauses gehört, dass Köln an »vorbildlichem« Frauenkampf in dieser Zeit »leider wenig zu bieten« hat. Einen kleinen Hinweis darauf, dass es sehr wohl auch damals in Köln einen feministischen Diskurs in den Unterklassen gegeben haben muss, findet man in dem von Februar 1849 bis März 1850 wöchentlich erschienenen Blättchen Verfolger der Bosheit. Die von dem verarmten Kölner Bäckermeister Mathias Wessel herausgegebene und größtenteils geschriebene Zeitschrift ist für den US-amerikanischen Historiker des Rheinischen Radikalismus Jonathan Sperber eines der wenigen Zeugnisse einer nicht für, sondern von den Unterklassen geschaffenen Publizistik. Das Blatt soll, schreibt Wessel, »dem Proletariat (arme Volksklasse) zeigen, wie’s bisheran noch geknechtet ward, von der Säbelherrschaft — vom Pfaffenthume unter dem Schleier der Verblendung — von der Bosheit der hohen Kaufmannschaft«, und »den eigentlichen Ursprung des Kapitals, überhaupt wie der Geldbeutel annoch das himmlische Symbol ist« aufdecken. In mehreren Aus­gaben dieses Zeugnisses proletarischer Öffentlichkeit findet sich eine scharfe Kritik daran, wie Frauen zu »Sklavinnen ihrer Männer oder Verwandten oder besser gesagt: Sklavinnen von Sklaven« gemacht werden, weil die Gesellschaft ihnen nicht »neben angemessener Beschäftigung auch die reichlichen Mittel zu ihrem Unterhalte bietet«. »Solange das Weib vom einzelnen Manne seinen Unterhalt erhält, wird es seiner Laune nach leben müssen.« Das Blatt fordert in der Konsequenz: »Das Recht, welches sich die Männer nehmen, frei zu wählen, ist dasselbe Recht für Frauen, frei zu verschmähen.«

 

Das vierseitige, im Kleinformat gedruckte Blättchen konnte wohl noch nach dem Verbot der von Marx redigierten Neuen Rheinischen Zeitung zum 19. Mai 1849 eine Zeit lang unter dem Radar der staatlichen Zensur fliegen, bevor es dann im März 1850 ebenfalls verboten wurde. Der bloßen Möglichkeit, dass sich auch Frauen in Vereinen zusammenschließen könnten, um ihre Forderungen anzumelden, schob Preußen einen Riegel vor, indem es 1850 mit einem neuen Vereinsgesetz die Beteiligung von Frauen an politischen Vereinen oder Parteien kategorisch ausschloss. Ein Gesetz, das erst 1908 mit dem Erstarken der Frauenbewegung aufgehoben wurde. »Danke, Berlin«!