Freie Sicht auf den Dom!
Die »bittere Kreuzblume« wächst, laut Wikipedia, »in lichten Kiefernwäldern« und »auf Steinrasen«. Oder auf den Türmen gotischer und neo-gotischer Kirchen. Die beiden Kölner Kreuzblumen sind besonders prächtige Exemplare dieser Gattung — rund acht Meter hoch, mit einem Durchmesser von 4,50 Meter. Es gibt noch ein drittes Exemplar. 1980 wurde sie als Kunststoff-, später Betonmodell fünfzig Meter vom Westeingang des Doms aufgestellt. Sie hat es nie auf einen der gotischen Türme des Doms geschafft, drängelt sich aber in die Selfies von Touristen aus aller Welt.
Damit passt sie perfekt zur Kölner Innenstadt, weil sich dort immer irgendwas in den Weg drängelt, wenn man nur möglichst schnell und unkompliziert von A nach B kommen möchte. Und weil die Simulation historischer Bauwerke eh das dominante Gestaltungsmittel in der Altstadt ist. Aber obwohl sie sich so gut in ihr Habitat einfügt, hat die Bezirksvertretung Innenstadt auf Initiative der Grünen schon im Januar »Fott damit!« gesagt. Sie störe die Sichtachsen zum Dom und nehme eine zu prominente Rolle ein. Unterstützt wurde sie dabei von der ehemaligen Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner und den Ergebnissen des Workshops »Stadtlabor«.
Aber dann erklärte zuerst die Verwaltung, dass sie keinen geeigneten anderen Standort finde, und der Leiter von Köln-Tourismus beklagte das Verschwinden eines »bewährten Treffpunkts« für seine Führungen. Und schließlich mischte sich auch noch die Volkspartei SPD ein — es ist schließlich Wahlkampf. »Meine Kinder lieben die Kreuzblume. Wenn ich mit meiner Familie in der Stadt spazieren gehe, darf ein Halt bei Dom und Kreuzblume nicht fehlen«, erklärte SPD-Chef Jochen Ott hemdsärmelig.
Der Kardinal-Höffner-Platz, wo die Kreuzblume steht, ist Beispiel für eine aus dem Ruder gelaufene Stadtplanung. Die Fußgänger, die von den Busparkplätzen an der Komödienstraße kommen, müssen sich mit einem viel zu schmalen Bürgersteig zufriedengeben, während Reisebussen und Bimmelbahn unverhältnismäßig viel Raum zugestanden wird. Wenn der Wallraffplatz demnächst offiziell für Fahrräder geöffnet wird, wird auch der ohnehin nicht zu vermeidende Radverkehr zunehmen. Die beste Lösung wäre ein autofreier Shared Space — ohne eine Kreuzblume, die im Weg steht.
Dafür müssten die Kreuzblumen-Fans von CDU, SPD und Köln-Tourismus nicht auf ihr Lieblingsbauwerk verzichten. Sie könnte als Dauerleihgabe im Garten von Jochen Ott weiterblühen. Ott wohnt in Nippes in der autofreien Siedlung und ist dort Nachbar seines Parteispezis Martin Börschel, dessen Schwester Regina wiederum zu den überzeugten Verteidigern der Betonblume gehört. Köln-Tourismus bietet eine neue Führung an: »Köln autofrei (plus Kreuzblume).« Wenn alle Teilnehmer freundlich sind, lässt der OB-Kandidat auch mal ein Eis springen.
Christian Werthschulte ist Politikredakteur der StadtRevue und findet, dass es immer noch ein Sommerloch gibt