»Ich bin doch schon groß«

Krieg, Terror, Menschenhandel: Immer mehr minderjährige ­Flüchtlinge ­kommen allein ohne Angehörige in Köln an.

Wir haben drei junge Menschen getroffen, die aus den unter­schiedlichsten Gründen aus ihrer Heimat fliehen mussten.

 

Senaits neues Leben beginnt an einem Junimorgen in einem Kölner Hotel. Zwei Wochen lang sitzt sie in dem schicken Zimmer und blickt nach draußen, sieht Autos, Bäume, vorbeilaufende Menschen. Raus darf sie nicht, das hat »die Herrin« ihr verboten. Senait ist 15 Jahre alt und eine moderne Sklavin. Geboren wurde sie in Äthiopien, mit 14?Jahren verkaufte ihre Stiefmutter sie an eine Familie nach Dubai, der sie fortan -dienen muss. Wo sie genau ist, in welchem Land oder welcher Stadt, weiß sie nicht. Nur dass sie alle mit dem Flugzeug nach Europa geflogen sind, Urlaub, wie »Madame« gesagt hat. Boutiquen, Freizeitparks, Privatkliniken — Deutschland ist ein beliebtes Ziel für Touristen aus den Golfstaaten. »Das war meine einzige Chance. Ich bin einfach abgehauen«, sagt Senait heute. Plötzlich ist sie allein in einem fremden Land, fast noch ein Kind. Sie hat keine Papiere und spricht nur ihre Muttersprache Amharisch und ein bisschen Arabisch. Aber sie ist frei und sie lebt. Das ist jetzt 16 Monate her. 

 

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, kurz UMF, sagt man im Fachjargon zu Kindern und Jugendlichen wie Senait, die ohne Ange-hörige nach Deutschland einreisen. Sie kommen aus Afghanistan, -Eri-trea, Syrien oder Somalia, 90 Prozent von ihnen sind Jungen. So unterschiedlich ihre Biografien sind, sie alle haben Unvorstellbares erlebt: Krieg, Terror, Genital-verstümmelungen, Zwangsheirat, Folter, Menschenhandel. Der Bundes-fachverband Unbegleitete minder-jährige Flüchtlinge, eine Nichtregierungs-organisation, verzeichnet einen rasanten Zuwachs in den vergangenen Jahren: 2012 suchten bundesweit rund 4.700 Flüchtlingskinder Schutz, 2014 bereits 7.500. Bis Ende des Jahres wird die Zahl abermals sprunghaft ansteigen. Allein die Stadt Köln -rechnet bis Dezember mit etwa 1.000 Neuankömmlingen — das sind fünfmal so viel wie vor zwei Jahren.

 

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben bis zur Volljährigkeit Anspruch auf Jugendhilfe, das heißt, sie müssen vom Staat besonders geschützt werden. Die Jugendämter sind verpflichtet, die Kinder in Obhut zu nehmen und in speziellen Einrichtungen unterzubringen. Das sind meist Heime oder betreute Wohngruppen und eben keine regulären Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge. 

 

Senait hat Glück gehabt. Sie lebt seit gut einem Jahr mit sieben anderen Jugendlichen in einer gemischten Wohngruppe der Diakonie Michaels--hoven. An einem großen Holztisch sitzt die 17-Jährige ihrem Betreuer Rudi Porten gegenüber, im Hintergrund klappert Geschirr, einige Jugendliche bereiten das Abendessen vor. Senait besucht eine internationale Förderklasse an einem Berufs-kolleg. Jeden Tag lernt sie mindestens zwei bis drei Stunden, nächstes Jahr will sie den Realschulabschluss machen — nach nur zwei Jahren. Danach möchte sie Krankenschwester werden. »Die Kids sind ungewöhnlich stark. Sie haben eine lebensgefährliche Flucht überstanden und den absoluten Ehrgeiz, etwas auf die Beine zu stellen«, sagt Rudi Porten, der seit 15 Jahren mit unbegleiteten Minderjährigen arbeitet. Wenn Senait, die so häufig und so offen lacht, an Dubai denkt, senkt sie den Blick und schlingt die Arme um ihren Körper. So als wolle sie die Erlebnisse, die sie schon so oft den Betreuern, Psychologen oder Jugendamts-mitarbeitern erzählen musste, fernhalten. »Die Menschen waren einfach nur schrecklich zu mir«, flüstert sie. Was genau passierte, möchte Senait nicht erzählen. An ihren Unter-armen sieht man Verbrennungen, über ihren hübschen Augen hat sie eine Narbe, die nur erahnen lassen, welche Folter sie ertragen musste. 

 

Auch Jamshed und Emir leben in der Wohngruppe, sie sitzen im Wohnzimmer, es läuft Fußball. Jamshed wohnt seit zweieinhalb -Jahren hier, er ist 17 und wurde in Afghanistan geboren. Mit neun -Jahren ist er gemeinsam mit seinem Vater aus dem kleinen Dorf ge-flohen, so wie die meisten anderen auch, die noch lebten. »Die -Taliban sind überall. Mein Opa hatte eine Pistole, aber nur fünf Patronen. Das war zu wenig.« Fünf Jahre hat er mit seinem Vater im Iran gelebt, die afghanische Community dort ist groß. »Ich mochte Teheran. Aber irgendwann sagte mein Vater: Wir müssen weiter. Hier ist es nicht mehr gut für uns«, erzählt er. Über die Türkei sind sie nach Griechenland gereist. Dann hat sein Vater ein Ticket nach Bari gekauft. »Er brachte mich zum Schiff und blieb an Land. Das war ein Schock.«


Wo sein Vater heute lebt, weiß Jamshed nicht. Er hat sich dann als 14-Jähriger über Italien und Frankreich nach Köln durch-geschlagen. »Ich bin doch schon groß«, sagt er auch etwas stolz. Viele Familien würden sich verschulden, um zumindest die Schleppergebühren für eine Überfahrt zusammenzukratzen, weiß Rudi -Porten. »Das zeugt von großer Verantwortung, wenn Eltern ihre Kinder alleine los-schicken«, so Porten. Die meisten Kinder seien bei ihrer Ankunft in Deutschland doppelt traumatisiert: »Durch die schreck-lichen Erlebnisse in ihrem Heimatland und durch die Flucht«, sagt Porten, der schon viel gehört hat. Von Schleppern, die die Flüchtlinge sexuell missbrauchen, von Mädchen, die hier in Deutschland ihre Flucht -abarbeiten müssen, von zu kleinen Schlauchbooten, auf denen sich jeder der nächste ist.

 

Auch Emir ist geflohen, um dem Tod zu entkommen. Er stammt aus dem Norden von Albanien, dort, wo sich die meisten Menschen auf den »Kanun« berufen, ein jahrhundertealtes, mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht. »Die haben gesagt, die bringen mich um«, sagt der Junge mit den akkurat geschnittenen blonden Haaren und den blauen Augen. »Die«, das ist ein seit Jahrzehnten mit seiner Familie verfeindeter Clan. Seit dem Ende des Kommunismus Anfang der 90er Jahre steigt die Zahl der Blutrache-Opfer wieder. In den letzten Jahren geraten auch vermehrt Kinder und Frauen zwischen die Fronten. 1.500 Minderjährige wachsen ohne Schulbildung und Kontakte zur Außenwelt auf, weil sie aus Furcht vor Vergeltung das Haus kaum verlassen. 

 

Emir, der so gerne mit seinen Freunden am Rhein spazieren geht, sagt, dass er nicht einmal genau wisse, warum die beiden Familien miteinander in Blutrache stehen. Zu viel sei passiert und erzählt worden. Seine Oma hatte Geld gespart, vor gut einem Jahr hat sie ihm ein Busticket nach Deutschland gekauft. Niemand weiß, wo Emir jetzt lebt. »Das wäre zu gefährlich.« 

 

Vor einem Monat feierte Emir -seinen 18. Geburtstag. »Ein schöner Abend. Seitdem habe ich aber auch Angst.« Denn mit der Volljährigkeit endet offiziell der Schutzstatus für minderjährige Flüchtlinge. »Bei guter Entwicklung schaffen wir es, die Jugendhilfe noch um ein Jahr zu verlängern«, sagt Rudi Porten. Anschließend entscheiden die Behörden über den Aufenthaltsstatus: Sprachkenntnisse, Schulabschluss oder ein Ausbildungsplatz sind wichtige Aspekte. Emir besucht eine internationale Förderschulklasse, er hat gute Noten, er spielt als Stürmer im Vingster Fußballclub. »Die meinen es ernst. Ich kann da nicht zurück«, sagt er und schüttelt immer wieder den Kopf, wenn er an seine Heimat denkt.

 

Der albanische Staat schafft es offensichtlich nicht, seine Bevölkerung zu beschützen und die Kinder sorglos in einem rechtsstaatlichen System aufwachsen zu lassen. Dennoch will die Politik jetzt auch Albanien, Kosovo und Montenegro in die Liste der sicheren Herkunfts-länder aufnehmen — nach  Serbien, Bosnien und Mazedonien im vergangenen Jahr. Durch die Pauschalannahme, dass das Land sicher sei, können Asylsuchende schneller abgeschoben werden. Für die Menschen bedeutet das, dass sie kein vollwertiges Verfahren mehr durchlaufen. Stattdessen müssen sie nachweisen, dass sie abweichend von der allgemeinen Lage in ihrem Land bedroht sind.  

 

Senait und Emir haben einen Antrag auf »Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen« gestellt, Jamshed einen Asylantrag wegen politischer Verfolgung. Anträge aus Syrien und Eritrea werden derzeit fast alle in einem beschleunigten Verfahren anerkannt, auch Afghanistan hat eine hohe Quote. »Von hier ging noch keiner so schnell weg. Ich erinnere mich an viele schöne Geschichten«, sagt Rudi Porten zuversichtlich. Er denkt an den indischen Jungen, der als 13-Jähriger verstört in Köln ankam und jetzt in Düsseldorf eine Ausbildung bei Siemens macht, oder an Amalie aus Somalia, die heute als Krankenschwester arbeitet. »Amalie ist mein Vorbild«, sagt Senait und geht auf ihr Zimmer, Hausaufgaben machen. Die Zukunft ruft.