Politik unter Schock
Henriette Reker lebt. Das ist die wichtigste Meldung nach der Kölner OB-Wahl am 18. Oktober. Einen Tag zuvor war die parteilose Kandidatin auf einem Markt in Braunsfeld von einem 44-jährigen Mann mit einem Messer lebensbedrohlich attackiert worden. Der Täter, der langzeitarbeitslose Maler und Lackierer Frank S. aus Nippes, verletzte zudem weitere vier Menschen aus Rekers Wahlkampf-Team. Dann ließ er sich festnehmen.
Der Täter hatte fremdenfeindliche Motive, wie Polizei und Staatsanwaltschaft mitteilen. Der Angriff galt gezielt der OB-Kandidatin und bisherigen Sozialdezernentin, da sie für die Unterbringung von Flüchtlingen zuständig ist. Ein psychologisches Gutachten attestierte außerdem die volle Schuldfähigkeit von Frank S. Zuvor hatte es Zweifel gegeben, da Zeugen von wirren Ausrufen (»Ich rette den Messias«) berichteten.
Noch vor den ermittelnden Behörden teilte die Antifa Bonn/Rhein-Sieg mit, dass Frank S. »ein bekannter Nazi« sei. In den 90er Jahren soll er zur rechtsextremen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) gehört haben. Sie verstand sich als Nachfolgeorganisation der SS und war unter anderem an Brandanschlägen wie 1992 auf ein Haus mit Asylbewerbern in Rostock beteiligt. Weiter berichtet die Antifa, dass Frank S. bereits 1997 wegen Gewalttaten im Gefängnis gesessen habe. Das war den Ermittlungsbehörden zunächst offenbar unbekannt; die entsprechenden Daten werden nach zehn Jahren gelöscht. Mittlerweile hat der neue Generalbundesanwalt Peter Frank aufgrund der »Schwere der Tat und der mit ihr vom Beschuldigten angestrebten Signalwirkung« die Ermittlungen an sich gezogen.
Ganz gleich, ob Frank S. das Attentat an Reker allein vorbereitet hat oder ob er zu einem rechtsextremen Netzwerk gehört, ist die Tat im Zusammenhang mit der zunehmenden rechtsextremen Gewalt und fremdenfeindlichen Stimmung zu sehen. Die Pegida-Aufmärsche in Dresden sind immer unverhohlener rechtsextrem und gewaltbereit, in Köln marschieren erneut »Hooligans gegen Salafisten« (Hogesa) auf, und der viel beschworenen Willkommenskultur stehen zahlreiche Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte gegenüber.
So »unvorstellbar« wie das Attentat auf Reker vielen erschien, ist es nicht. Auch in der Kölner Bevölkerung gibt es einen konstanten Anteil von Menschen mit rassistischen Einstellungen. Das zeigte die Kommunalwahl 2014 mit zusammen mehr als fünf Prozent der Stimmen für die rechtspopulistische AfD und die rechtsextreme Bewegung Pro Köln. Bei der OB-Wahl wählten vier Prozent den Kandidaten der AfD, die sich unter der neuen Bundesvorsitzenden Frauke Petry noch weiter nach rechts orientiert und den Fremdenhass von Pegida befeuert. Auch deshalb wird die Amtszeit von Henriette Reker, die nach Angaben der Ärzte wieder vollständig genesen wird, von dem Attentat und seinen gesellschaftlichen Hintergründen geprägt sein.
Rekers Wahlerfolg ist beeindruckend. Von den Grünen als OB-Kandidatin nominiert und unterstützt von CDU, FDP, Deine Freunde und Freien Wählern erhielt die parteilose Kandidatin gleich im ersten Wahlgang 52,7 Prozent der Stimmen. Für ihren Konkurrenten Jochen Ott, Chef der Kölner SPD, stimmten gerade mal 32 Prozent.
Aber mehr als 483.000 Wahlberechtigten war es auch gleichgültig, wer OB wird. Die Wahlbeteiligung lag bloß bei knapp 40 Prozent. Der waghalsige Aufruf Kölner Lokalpolitiker, wegen des Anschlags sollten die Kölner »jetzt erst recht« wählen gehen, verfing nicht. Und so vertritt Reker trotz ihres großen Erfolg gerade mal 21 Prozent aller Wahlberechtigten.
Untersuchungen zeigen, dass sich unter Nichtwählern stets ein sehr hoher Anteil armer und gesellschaftlich deklassierter Menschen befindet. Sie fühlen sich von der Politik nicht vertreten, sehen keinen Sinn darin, abzustimmen. Auch in Köln gingen in den am stärksten von Armut geprägten Stadtteilen wie Chorweiler, Finkenberg und Meschenich die wenigsten Menschen zur Wahl. Gleichzeitig erzielte Reker dort ihre schwächsten Resultate — und das, obwohl Reker von einem so breiten parteipolitschen Bündnis im Wahlkampf unterstützt wurde. Offenbar erreichen diese Parteien in den armen Stadtteilen die Wähler nicht, Ott hingegen erzielte seine wenigen Teilerfolge dort. Allerdings ist in diesen Stadtteilen auch das Ergebnis für den AfD-Kandidaten überdurchschnittlich hoch. Was heißt das für die künftige Politik der neuen Oberbürgermeisterin? Wie kann sie »Oberbürgermeisterin für alle Kölnerinnen und Kölner« werden, wie es im Wahlkampf hieß?
»Die neue Stadtspitze muss endlich
die soziale Spaltung Kölns aufhalten«
Für vorbeugende Programme gegen Rechtsextremismus und Rassismus, etwa an Schulen, sind offenkundig mehr Geld und Personal nötig. Es muss zudem dafür gesorgt werden, dass mehr Menschen sich von der Politik vertreten fühlen. Neue Modelle der Bürgerbeteiligung müssen jene einbinden, die sonst nicht ihre Interessen äußern können. Und die neue Stadtspitze muss endlich die soziale Spaltung Kölns aufhalten.
Nicht zuletzt zeugt auch der unerwartete Erfolg Mark Beneckes von der Nonsens-Truppe »Die Partei« vom Zustand der Stadt. Trotz drängender Probleme — Flüchtlingsunterbringung, Wohnungsnot, soziale Spaltung der Stadt, marode Infrastruktur — gaben gut sieben Prozent der Wähler Benecke ihre Stimme. Eine Vermutung liegt nahe: Während man in armen Stadtteilen seine Stimme verfallen lässt, wird in den besser situierten Milieus die Kommunalpolitik lächerlich gemacht. Beides muss den Politikern zu denken geben. Auch hier müsste Henriette Reker für einen Neuanfang stehen.
Zunächst aber, bis Reker wieder ganz gesund ist und ihr Amt antreten kann, führt Stadtdirektor Guido Kahlen (SPD) nach dem Ausscheiden des bisherigen OB Jürgen Roters (SPD) die Amtsgeschäfte. Die erste stellvertretende Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes (SPD) übernimmt die repräsentativen Aufgaben. Unterdessen werden aber bereits neue Bündnisse unter den Ratsfraktionen geschmiedet. Rekers Büro empörte sich bereits darüber und forderte, so lange zu warten, bis die neue Oberbürgermeisterin »an allen wichtigen Entscheidungsprozessen« beteiligt werden könne.
Von den Grünen ist derweil zu hören, dass eine Zusammenarbeit mit der SPD für sie künftig nur ohne Beteiligung des SPD-Parteichefs und unterlegenen OB-Kandidaten Jochen Ott vorstellbar sei. In der SPD rumort es naturgemäß nach Otts Wahlniederlage, zumal die Kandidatenauswahl ohne die Parteibasis beschlossen wurde.
Die CDU bietet sich derzeit sowohl SPD als auch Grünen für ein Bündnis an. Eine Große Koalition besäße eine komfortable Mehrheit, ein schwarz-grünes Bündnis bräuchte hingegen noch weitere Unterstützung im Rat. Unter anderem sind Deine Freunde dafür im Gespräch. Die Wählergruppe muss freilich abwägen, ob sie ihren Anhängern diesen Pragmatismus zumuten kann.
Die Fraktion der Linken, die Ott im Wahlkampf unterstützte, warnt bereits vor einer Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP. Das aber ist unwahrscheinlich, weil das Verhältnis von Grünen und FDP mindestens so schlecht ist wie das zwischen Grünen und SPD. Eine Fortführung des rot-grünen Kernbündnisses, das ohnehin wie zuletzt bei der Verabschiedung des Kölner Haushalts auf weitere Unterstützer wie etwa die Piraten angewiesen wäre, wird nach diesem Wahlkampf immer unwahrscheinlicher.