Mit dem Instinkt des Jägers und Sammlers
Hermann Götting hat kein Testament hinterlassen. Was er verfügt hätte, ist dennoch offenbar, liest man die Porträts und Interviews der letzten 20 Jahre, die sich mit dem Sammler beschäftigen: bewahren, was er in drei Jahrzehnten gesammelt hat. »Er war ein konservativer Mensch«, erinnert sich Margot Schmidt-Reichart. Die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin ist die Einzige, die jemals den Bestand der Sammlung Götting in diesem Umfang aufgenommen hat.
Zwei Jahre lang, von 1993 bis 1995, hat sie gesichtet, zeitlich eingeordnet und katalogisiert. In enger Zusammenarbeit mit Götting und im Auftrag des Kölner Stadtmuseums. Sie hat dabei über 2000 Objektnummern vergeben. Da sich hinter einer einzigen Nummer ein Ensemble – beispielsweise die komplette Einrichtung eines Einzelhandelsgeschäfts – verbergen kann und zudem Göttings Privatwohnung in der Bestandsaufnahme fehlt, kann man von rund 100.000 Einzelstücken ausgehen.
Viel aus den 50ern
Gehortet hat Götting vor allem Gegenstände des täglichen Lebens, besonderen Wert legte er dabei auf die 50er Jahre. Er wolle gegen den Irrtum angehen, dieses Jahrzehnt sei »die Hochpotenz der Geschmacklosigkeit« gewesen, sagte Götting der StadtRevue im Dezember 1985. Die zeitliche Spanne der Sammlung reicht jedoch von der Jahrhundertwende bis zum Anfang der 70er Jahre. Alles, was danach kam, hat Götting nicht mehr interessiert.
Leidenschaftliche Sammler sind eine eigene Spezies. Doch selbst im Kosmos dieses besonderen Menschenschlags war Hermann Götting ein Unikum. Er war beseelt und besessen von der Idee, aufzubewahren, was andere für überholt und überflüssig hielten und deshalb achtlos abmontierten, entsorgten, wegwarfen. Mit dem Instinkt des Jägers und Sammlers lief er durch Köln und rettete alles, was ihm der Rettung wert erschien. Dabei war er sich weder zu schade, in Containern zu wühlen, noch ließ er sich von Geld-, Transport- oder Unterbringungsproblemen abschrecken. Hermann Götting war nicht nur beharrlich und im Besitz einer Sackkarre, sondern fand in Köln auch immer Leute, die ihn unbürokratisch unterstützten.
Zu den bekanntesten Rettungsaktionen gehören die zweier prominenter Neonreklamen Kölns: Der »Klosterfrau Melissengeist«-Schriftzug, der seit 1940 am Dachgeschoss des Hansahochhauses (heute: Saturn) angebracht war, sowie das »4711/Köln«-Neonobjekt, das mehr als vier Jahrzehnte weithin sichtbar am Kölner Messeturm leuchtete. Für derlei Objekte war Göttings überquellende 200-Quadratmeter-Wohnung in der Richard-Wagner-Straße zu klein, Mitte der 80er Jahre bemühte er sich um ein Lager für seine ausufernde Kollektion, schrieb an den Oberstadtdirektor, ließ nicht locker. Schließlich betreibe er »stadtkölnische Spurensicherung im Interesse der Bürger«. Dass sich die Bürger an Göttings Leidenschaft tatsächlich erfreuten, bewies seine Ausstellung »Von Maurice Chevalier bis zum Nierentisch« im Kölnischen Kunstverein, eröffnet im Dezember 1985. 35.000 Leute sahen die Schau von Gebrauchs- und Dekorationsgegenständen der 50er Jahre – das war damaliger Besucherrekord des Museums.
Alles dabei
Heute ist seine Sammlung außer in seiner Wohnung in einer Lagerhalle in der Südstadt und in einem Pfeiler der Zoobrücke untergebracht. Sie reicht vom Hausrat samt Butterdose, Ondulierstab und Tapetenrollen über komplette Interieurs von Bäckereien und Friseurläden bis zu Einrichtungs- und Beleuchtungsobjekten aus Kölner Kinos und Gaststätten. Margot Schmidt-Reichart zitiert aus ihrer Bestandsaufnahme, um zu illustrieren, für wie einzigartig und bedeutsam sie diese Sammlung von Zeugnissen der Populärkultur hält: »Hermann Götting verwirklicht eine Sammlerstrategie, die sich isoliertem Ausstellungsdenken verweigert, die am lebendigen Alltagsgeschehen anknüpft, individuelle und kollektive Geschichte zu verbinden sucht.«
Hermann Götting hat ein Archiv der Kölner Alltagsgeschichte hinterlassen, aber kein Testament. Damit sind seine beiden Schwestern die rechtmäßigen Erbinnen. Mit denen sei man im Gespräch, versichert Jürgen Müllenberg vom Presseamt der Stadt. »Wir haben großes Interesse, das aus der Sammlung zu retten, was für die Stadtgeschichte relevant ist.« Einen konkreten Zeitplan gebe es derzeit zwar nicht, wohl aber einen möglichen Ort für eine zukünftige Teilsammlung Götting in städtischem Besitz: den geplanten Erweiterungsbau des Stadtmuseums an der Zeughausstraße. Sollte das klappen, könnte sich herausstellen, dass Götting nicht nur Sammler, sondern auch Prophet war: »Die Stadt wird mir später ein Denkmal setzen«, sagte er zu Marie Hüllenkremer, die im August 1986 ein Porträt über ihn im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlichte.