Eine Art Requiem

Mit »Alte Freunde« beendet Rafael Chirbes seine große Roman-Trilogie, die den Weg Spaniens von der Diktatur bis zur Gegenwart zeichnet. Klaus Jetz sprach mit ihm über das Übel der Macht, die spanische Literatur und Jugend zur Franco-Zeit

Der Balzac-Bewunderer und Camus-Verehrer Rafael Chirbes, geboren 1949, gilt als einer der Hauptvertreter der neueren spanischen Erzählkunst. In seinen realistischen, epenhaften Romanen, die unzählige Personen und mehrere Handlungsstränge aufweisen, rechnet er mit der jüngeren Geschichte Spaniens ab. Nach »Der lange Marsch« (1998) und »Der Fall von Madrid« (2000), den ersten beiden Teilen seiner Trilogie über die bleierne Zeit der langen Franco-Diktatur und den Übergang zur Demokratie (»transición«), ist er mit »Alte Freunde« jetzt in der Gegenwart angekommen. Und erzählt die Geschichte einer Generation, die die Welt verändern wollte und manche Träume verriet.

Interview:

StadtRevue: Bilden die Romane der Trilogie ein Gesamtwerk, oder handelt es sich vielmehr um drei einzelne Romane?

Rafael Chirbes: Sie entstanden als selbstständige Romane, bilden aber nun eine Einheit. Frühere Personen tauchen wieder auf, deren Söhne und Töchter. Es handelt sich um den Zyklus einer Generation, der von der Geburt einzelner Personen in »Der lange Marsch« bis zu deren Tod in »Alte Freunde« reicht. Allerdings wollte ich das Schema nicht in ein enges Korsett zwängen, und die Personen sollten auch nicht von Roman zu Roman die gleichen Namen erhalten. Jeder Roman hat seine Charakteristika, die ihn auszeichnen: Im ersten ist es diese Atmosphäre voller Skepsis, die Personen stehen dem Leser näher und der Identifikationsgrad mag höher sein. Im zweiten gibt es ein größeres Gleichgewicht zwischen intellektuellen Thesen und Personen aus Fleisch und Blut, und im dritten ist weniger die Charakterisierung von Personen von Bedeutung, sondern vielmehr deren Funktion, die sie im Buch übernehmen. Es ging mir in »Alte Freunde« darum, eine Art Requiem aus mehreren Stimmen zu schaffen, die aber alle den gleichen Ton anschlagen.

Welche Autoren haben sie besonders beeinflusst?

Eine Sache ist der tatsächliche Einfluss, was anderes sind die Autoren, die einem gefallen. Wer einen beeinflusst hat, weiß man nicht. Mir gefallen viele Werke und Autoren: Die »Celestina« zum Beispiel oder der »Lazarillo«. Die »Celestina« ist wahrscheinlich das Beste, was die spanische Literatur hervorgebracht hat. »Der Fall von Madrid« ist ja ein »celestineskes« Werk, weil das Geld und die Macht alles durcheinander bringen, oben und unten vermengen sich. Es ist ein Buch voller Plagiate, wie es ja auch in der »Celestina« der Fall ist. Personen werden Zitate in den Mund gelegt, etwa Worte aus »Krieg und Frieden« – ein Buch, das mir besonders gut gefällt –, die eine ganz andere Funktion haben, in manchen Dialogen aber gut passen. Mir gefallen die russische Avantgarde, die Literatur der Zwischenkriegszeit, Döblin und »Berlin Alexanderplatz«, Musil, Roth, Mann, auch nordamerikanische Autoren wie Sinclair Lewis oder John Steinbeck. Von den Spaniern hat mir Max Aub vieles beigebracht und auch Juan Marsé, dessen Bücher mich jedes Mal neu in Erstaunen versetzen.

Und Cela?

Cela gefällt mir nicht. Seine Werke sind zu stolz, zu altbacken, zu spanisch. Der Autor ist zu streng mit seinen Charakteren und nimmt sich nicht zurück, liebt sich selbst mehr als seine Geschöpfe, die er oftmals lächerlich macht.

Woher kommt der Pessimismus, dieses ständige Gefühl der Niederlage bei fast allen Personen in Ihren Romanen?

Das kommt daher, dass ich das Leben lebe, Bücher gelesen und Filme gesehen habe. Man braucht nur die Klage Pleberios, des Vaters von Melibea am Schluss der »Celestina« zu lesen: Da offenbart sich, wie entsetzlich und grauenvoll die Welt sein kann. Wir reden hier zwar vom Ende des 15. Jahrhunderts, aber es waren ja nie die guten Menschen, die regierten. Und das Gute im Menschen wurde nie belohnt. Wenn man sich die Wirklichkeit ansieht, gibt es doch eigentlich keinen Grund, sehr optimistisch zu sein. Wir Autoren schreiben, weil uns die Wirklichkeit nicht gefällt. Wenn sie uns gefiele, würden wir keine Zeit verplempern uns einzuschließen und zu schreiben. Es ist dieser Unterschied zwischen dem, was man möchte und dem, was ist, der uns an den Schreibtisch fesselt.

Wie haben Sie Franco-Diktatur und »transición« erlebt? Was waren die prägendsten Eindrücke?

Die letzten Jahre der Diktatur, meine Jugend, waren geprägt von Unlust, Zorn, unterdrückter Wut, bedrückender Langeweile. Hinzu kam die tägliche Repression. Man hatte keinen Zugang zu Büchern, jeder konnte dir in der Metro ein Buch aus der Hand reißen und damit drohen, dich aufs Polizeikommissariat zu schleppen. Man merkte einfach, dass das Land von den Dümmsten, von großer Einfallslosigkeit regiert wurde. Und dann die grenzenlose Freude über das Verschwinden des Diktators, all die Hoffnungen, die aber schnell enttäuscht wurden. Es gab ja keinen Befreiungsschlag, der große Knall blieb aus. Ich hatte bald das Gefühl, dass die Entwicklung nicht normal verlief. Die internationale Politmafia schaltete und waltete wie es ihr beliebte, sie kontrollierte die Situation. Die gleichen Parteien wie in Europa entstanden, die vom Ausland gehätschelt und finanziert wurden. Die ursprünglich positiven Kräfte rückten in den Hintergrund, bis sie schließlich ganz verschwanden.

Erklären Ihre Romane, wie Spanien sein heutiges Gesicht bekam?

Jeder meiner Romane ist entstanden, um mir selbst klar zu machen, wo ich stehe, was mit mir passiert ist, wie die Umgebung aussieht, in der ich lebe, und welche Beziehungen ich zu ihr habe. Ich habe eine Art Röntgenaufnahme von mir gemacht, und dabei kamen all die Details meiner Romane zum Vorschein. Ich glaube an eine engagierte Literatur, lehne rein lyrisches Beiwerk und pure Gefühlsduselei ab. Literatur darf uns nicht blenden, sie muss uns etwas lehren, mit auf den Weg geben. Darin liegt ihre wahre Schönheit. Hermann Broch ist für mich Vorbild, weil er genau das in seinen Essays und im »Tod des Vergil« anspricht. Schönheit um der Schönheit willen ist Kitsch, ein Verbrechen, weil verschleiert wird, anstatt den Menschen die Welt, in der sie leben, zu erklären.

Wer gefällt Ihnen von den »Alten Freunden« am besten?

Der schlimmste von allen, Pedrito. Er lässt sich auf keine ideologischen Gefechte ein, ist ein schamloser Zyniker, verdient viel Geld und hat eine ganz klare Haltung, was Ideologie angeht, die schnell in Rhetorik und Vorurteile umkippt. Als Bauunternehmer zerstört er und lässt hässliche Dinge bauen, doch er versteckt sich nicht wie die anderen hinter leeren Phrasen. Eigentlich ist er die positivste aller Figuren, weil er alle anderen bloßstellt.

Warum sind Ihre Romane in Deutschland so erfolgreich?

Keine Ahnung, wahrscheinlich liegt es auch daran, dass »Der Fall von Madrid« im deutschen Fernsehen so positiv aufgenommen wurde. In Deutschland gab und gibt es ja auch so etwas wie eine Katharsis, eine breite Auseinandersetzung über die Vergangenheit und deren Aufarbeitung. Zwar gab es in Spanien gute Kritiken, aber das Echo war geringer. Das kann daran liegen, dass Autoren, die nicht zu den großen Medienkonzernen gehören, größere Schwierigkeiten haben als die, die mit den Monopolen zusammenarbeiten. Das ist bei mir nicht der Fall.

Wie bewerten Sie den Regierungswechsel im März?

Ich bleibe skeptisch. Zwar gab es die schöne Begleitmusik, z. B. die Ankündigung, den Einfluss der Katholischen Kirche zurückzudrängen oder homosexuelle Paare rechtlich gleichzustellen. Doch ich sehe schon wieder die gleichen Köpfe, die seit über zehn Jahren den Ton angeben.

Wird es von Ihnen weitere Romane über Bürgerkrieg, Diktatur oder die spanische Demokratie geben?

Ich will es hoffen. Ich weiß nicht, ob es dann ein Roman über die Zeit von Franco oder Felipe González sein wird. Aber sicher handelt er wieder von mir und dem, was ich erlebt habe.

Rafeal Chirbes: Alte Freunde. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Kunstmann, München 2004, 240 S., 19,90 €.
Teil 1 + 2 »Der lange Marsch« und »Der Fall von Madrid« sind als Heyne-Taschenbuchausgabe erhältlich (8,50/9 €.).