Immer am Rand entlang
Wenn die Welt gegen einen ist, sind das Wichtigste im Leben die Freunde. Am Ende des Romans ist die Ich-Erzählerin 15 Jahre alt, aus mehreren Heimen geflogen, gilt als »schwer erziehbar« und feiert mit der Hälfte ihrer Clique den glimpflichen Ausgang ihrer ersten Gerichtsverhandlung wegen Körperverletzung. Die andere Hälfte ihrer Freunde ist tot: vor den Zug gesprungen, mit dem Auto verunglückt, aus Versehen das falsche Zeug geschluckt. Dass die Erzählerin zu den Überlebenden zählt, könnte reiner Zufall zu sein.
»Heim«, der Debütroman der Kölnerin Mirijam Günter, erzählt etwa drei Jahre aus dem Leben der zu Beginn 13-jährigen Erzählerin und ihrer Clique. Die Jugendlichen sind ähnlich unterwegs wie fast jeder in der Pubertät, rebellisch, unsicher, sehnsüchtig, einsam. Gleichzeitig ist die Realität der »Asis aus dem Heim« Meilen entfernt von der Welt bürgerlich-behüteter H&M-Teenies. Zu ihr gehören Drogen, Randale, Ausbruchsversuche, Einbrüche, Jugendgefängnis. Sie führen einen Überlebenskampf, gegen die Vorurteile, Demütigungen, Willkür der Erwachsenen und gegen die eigene Ohnmacht, Aggression und Verlorenheit. Mal hellwach, mal völlig benebelt, immer am Rand entlang. »Wir lebten wie batteriebetriebene Männchen. So lange die Batterie voll war, liefen wir, wenn die Batterie leer war, waren wir tot.«
Keine Ahung, aber Macht
Zählt man die Fakten zusammen, enthält dieses »Jugendbuch« harten Stoff, aber es jammert nicht und hält sich konsequent an die Perspektive der Jugendlichen selbst. Die Erwachsenen haben keine Ahnung, aber meistens die Macht. Eine reale Chance auf eine erträgliche Zukunft gab es eigentlich nie, und Begrüßungsformeln wie »...wir werden uns viel Mühe mit dir geben und du wirst Dich bald wohl fühlen« äußern jene pseudoliberalen Erzieher, die einen wenig später als untragbar aus dem Heim rausschmeißen. Die Grundregeln des Lebens, ihres Lebens, haben die »Heimkinder« begriffen. Ihr Weltbild ist unfair, begrenzt und einfach, ihre Trotzhaltung und kriminellen Aktionen sind ziemlich idiotisch. Nicht minder unfair und idiotisch sieht allerdings die »Erwachsenenwelt« bzw. »Gesellschaft« aus, die nichts mit solchen Kindern anzufangen weiß, als sie von Heim zu Heim zu schicken oder im Notfall einzubuchten, ohne sich ihre Ratlosigkeit einzugestehen.
Ein Stück Realität
Dieser Spiegel, der scharfe und ironische Blick »von der anderen Seite« ist eine der Qualitäten des Romans, der parteiisch ist, aber klugerweise die Frage von Schuld und Verantwortung nicht ausspielt. Die Autorin beschränkt sich auf das, was Sache der Literatur ist: ein Stück Realität zu vermitteln, und, wie sie im Interview sagt, denjenigen eine Stimme zu geben, die sich sonst nur in Berichten von Sozialarbeitern, Erziehern und Psychologen wiederfinden bzw. eben nicht wiederfinden. Wenn dabei ein paar Gramm zu viel Freundschaftspathos und Cliquenmoral sowie einzelne Unglaubwürdigkeiten hineingeraten sind, nimmt man das ebenfalls als Realität der Protagonistin hin. Zumal es um einen Roman, nicht um Autobiografie geht.
Mirijam Günter profitierte beim Schreiben von ihrer eigenen Erfahrung in mehreren Heimen und von viel Erzähltalent. Die direkte Sprache, präzise Beobachtungen, Ironie, Situationskomik und punktgenaue Dialoge machen »Heim« zu einem lesenswerten Debüt. Das Manuskript wurde 2003 mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet, Mirijam Günter arbeitet mit einem Stipendium am nächsten Buchprojekt. »Heim« erschien zur Buchmesse bei dtv und ergänzt Benjamin Leberts Erfolgsbuch »Crazy«, in dem pubertäres Männlichkeitsgehabe thematisch und stilistisch eine zentrale Rolle spielt, um eine starke weibliche Erzählstimme.
Mirijam Günter: Heim. Dtv extra, München 2004, 300 S., 7,50 €.